EGMR
Rechtssache JAHN u.a. gegen Deutschland vom 30.06.2005
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer
Nichtamtliche deutsche Übersetzung aus dem Französischen
Quelle: Bundesministerium der Justiz, Berlin
30/06/05 - Rechtssache JAHN und andere gegen DEUTSCHLAND (Beschwerden Nr.
46720/99, 72203/01 und 72552/01) – Urteil der Großen Kammer
Siehe auch Urteil
vom 22.01.2004 in der Rechtssache JAHN und andere gegen
DEUTSCHLAND (Beschwerden Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01)
URTEIL
STRASSBURG
30. Juni 2005
Dieses Urteil ist endgültig.
Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache Jahn u.a. ./. Deutschland
ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der als Große Kammer
zusammengetreten ist, die sich aus folgenden Richtern zusammensetzt:
Herrn L. Wildhaber,
Präsident
,
Herrn C.L. Rozakis,
Herrn J.-P. Costa,
Herrn G. Ress,
Sir Nicolas Bratza,
Herrn I. Cabral Barreto,
Herrn C. Bîrsan,
Herrn V. Butkevych,
Frau N. Vajic,
Herrn M. Pellonpää,
Frau S. Botoucharova,
Frau E. Steiner,
Herrn S. Pavlovschi,
Herrn L. Garlicki,
Herrn J. Borrego Borrego,
Herrn K. Hajiyev,
Frau L. Mijovic,
und Herrn E. Fribergh,
stellvertretender Kanzler
,
nach Beratung in nichtöffentlicher Sitzung am 26. Januar und 25. Mai 2005,
zu folgendem Urteil gelangt, das am letztgenannten Tag angenommen worden ist:
VERFAHREN
1. Dem Fall liegen drei gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete
Beschwerden (Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01) zugrunde.
Zwei Staatsangehörige dieses Staates, Frau Heidi Jahn und Herr Albert Thurm („die
Beschwerdeführer“), hatten die Europäische Kommission für Menschenrechte
aufgrund des früheren Artikels 25 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte
und Grundfreiheiten („die Konvention“) am 2. September 1996 angerufen. Ihre
Beschwerde ist dem Gerichtshof am 1. November 1998, dem Zeitpunkt des
Inkrafttretens des Protokolls Nr. 11 zur Konvention (Artikel 5 Abs. 2 des Protokolls
Nr. 11), vorgelegt worden. Drei weitere deutsche Staatsangehörige, Frau Erika
Rissmann, Frau Ilse Höller und Frau Edith Loth (ebenfalls „die Beschwerdeführer“),
haben den Gerichtshof nach Artikel 34 der Konvention angerufen, und zwar die
beiden Ersten am 19. März 2001 und die Dritte am 23. April 2001.
2. Die Beschwerdeführer, denen Prozesskostenhilfe gewährt worden ist, werden in
dem Beschwerdeverfahren Jahn und Thurm von Rechtsanwältin W. Lange, in dem
Beschwerdeverfahren Rissmann und Höller von Rechtsanwältin B. Grün und in dem
Beschwerdeverfahren Loth von Rechtsanwalt T. Purps vertreten. Die deutsche
Regierung wird von ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau Ministerialrätin A.
Wittling-Vogel, vertreten.
3. Die Beschwerdeführer behaupteten insbesondere, dass die ihnen auferlegte
Verpflichtung, ihre Grundstücke unentgeltlich aufzulassen, ihr in Artikel 1 des
Protokolls Nr. 1 verankertes Recht auf Achtung ihres Eigentums verletzt habe. Sie
sehen sich auch als Opfer einer Diskriminierung im Sinne des Artikels 14 der
Konvention in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1.
4. Die Beschwerden sind der Vierten Sektion des Gerichtshofs zugewiesen worden
(Artikel 52 Abs. 1 der Verfahrensordnung). In dieser Sektion ist die für die Prüfung
der Rechtssache vorgesehene Kammer (Artikel 27 Abs. 1 der Konvention) gemäß
Artikel 26 Abs. 1 der Verfahrensordnung gebildet worden.
5. Am 1. November 2001 hat der Gerichtshof die Zusammensetzung seiner
Sektionen (Artikel 25 Abs. 1 der Verfahrensordnung) geändert. Diese Beschwerden
sind der so umgebildeten Dritten Sektion zugewiesen worden (Artikel 52 Abs. 1).
6. Am 25. April 2002 hat eine Kammer dieser Sektion bestehend aus den Richtern
Herrn I. Cabral Barreto, Herrn G. Ress, Herrn L. Caflisch, Herrn P. Kuris, Herrn J.
Hedigan, Frau Tsatsa-Nikolovska und Herrn K. Traja sowie dem Kanzler der
Sektion, Herrn V. Berger, die Beschwerde Nr. 46720/99 (Jahn und Thurm) für
zulässig erklärt. Am 15. Mai 2003 hat die Kammer die Beschwerden Nr. 72203/01
(Rissmann und Höller) und Nr. 72552/01 (Loth) verbunden und sie für teilweise
zulässig erklärt.
7. Am 18. September 2003 hat die Kammer eine mündliche Verhandlung über die
Begründetheit der Rechtssache durchgeführt (Artikel 54 Abs. 3 der
Verfahrensordnung) und am 16. Dezember 2003 beschlossen, die drei
Beschwerden zu verbinden (Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung).
8. Am 22. Januar 2004 hat die Kammer ein Urteil gefällt, in dem sie einstimmig
feststellt, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verletzt worden und die Rüge der
Beschwerdeführer im Zusammenhang mit Artikel 14 der Konvention in Verbindung
mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht zu prüfen ist.
Die Kammer hat auch mit sechs zu einer Stimme entschieden, dass die Frage des
Artikels 41 der Konvention noch nicht spruchreif ist. Der Kammerpräsident, Herr
Cabral Barreto, hat dem Urteil eine teilweise übereinstimmende und teilweise
abweichende Meinung beigefügt.
9. Am 20. April 2004 hat die Regierung auf der Grundlage von Artikel 43 der
Konvention und Artikel 73 der Verfahrensordnung die Verweisung der Sache an die
Große Kammer beantragt. Der Ausschuss der Großen Kammer hat den Antrag am
14. Juni 2004 angenommen.
10. Die Zusammensetzung der Großen Kammer ist gemäß Artikel 27 Abs. 2 und 3
der Konvention und Artikel 24 der Verfahrensordnung beschlossen worden.
11. Sowohl die Beschwerdeführer als auch die Regierung haben schriftliche
Stellungnahmen zur Begründetheit der Rechtssache vorgelegt (Artikel 59 Abs. 1
der Verfahrensordnung). Jede Partei hat schriftliche Anmerkungen zur
Stellungnahme der anderen Partei vorgelegt.
12. Am 26. Januar 2005 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung im
Menschenrechtspalast in Straßburg statt (Artikel 59 Abs. 3 der
Verfahrensordnung).
Es sind erschienen:
–
für die Regierung Frau A. Wittling-Vogel,
Ministerialrätin,
Verfahrensbevollmächtigte
,
Herr J. Frowein, Professor,
Rechtsbeistand,
Herr H. Weiss,
Ministerialdirigent
,
Herr H.-J. Rodenbach,
Ministerialrat,
Herr W. Marx,
Regierungsdirektor,
Berater,
–
für die Beschwerdeführer
Frau B. Grün, Rechtsanwältin,
Herr T. Purps, Rechtsanwalt,
Rechtsbeistände,
Frau W. Lange, Rechtsanwältin,
V.-U. Hahn, Rechtsanwalt,
Berater.
Der Gerichtshof hat die Erklärungen der Rechtsanwälte Grün und Purps sowie des
Herrn Frowein und ihre Antworten auf die Fragen einiger Richter angehört.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES
13. Die erste Beschwerdeführerin, Frau Heidi Jahn, ist die Schwester des zweiten
Beschwerdeführers, Herrn Albert Thurm. Alle beide sind 1947 geboren und in
Sangerhausen wohnhaft. Die dritte und vierte Beschwerdeführerin, Erika Rissmann
und Ilse Höller, sind Schwestern, 1942 bzw. 1944 geboren und wohnen in Erftstadt
bzw. in Stotzheim. Die fünfte Beschwerdeführerin, Edith Loth, ist 1940 geboren
und in Frankfurt (Oder) wohnhaft.
A. Die Vorgeschichte des Verfahrens
1. Die ab 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland durchgeführte
Bodenreform
14. Im September 1945 wurden in der Sowjetischen Besatzungszone in
Deutschland belegene Grundstücke von mehr als 100 ha im Rahmen der
Bodenreform enteignet. Diese Grundstücke wurden in einen staatlichen
Bodenfonds überführt, aus dem Parzellen von durchschnittlich ungefähr 8 ha an
landlose oder landarme Bauern übergeben wurden.
15. Die Beschwerdeführer sind Erben der neuen Eigentümer (die damals
Neubauern genannt wurden) dieser Bodenreformgrundstücke, die im Gebiet der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) belegen sind.
16. Die Bodenreformverordnungen von 1945 (Nrn. 55-56 unten) bilden die
gesetzliche Grundlage dieser Bodenreform und unterwerfen die im Rahmen der
Bodenreform erworbenen Grundstücke Verfügungsbeschränkungen. Die
Zuteilungsurkunden bezeichneten diese Grundstücke als vererblich.
17. Das Ziel dieser Verordnungen bestand darin, dafür Sorge zu tragen, dass
bestimmte Flächen landwirtschaftlich genutzt wurden, um die Versorgung der
Bevölkerung mit Nahrung sicherzustellen.
18. Die Besitzwechselverordnungen vom 21. Juni 1951, 7. August 1975 und 7.
Januar 1988 (Nrn. 57-59 unten) regelten die Fälle der Rückführung der
Grundstücke in den Bodenfonds und die Zuteilung an Dritte, unter der
Voraussetzung, dass diese sich verpflichteten, die Grundstücke landwirtschaftlich
zu nutzen.
2. Die Verabschiedung des Gesetzes vom 6. März 1990 über die Rechte der
Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform durch das Parlament der DDR
19. Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 begannen die
Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier ehemaligen
Besatzungsmächten (Frankreich, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten von
Amerika und Sowjetunion), die zur deutschen Wiedervereinigung führten, die am
3. Oktober 1990 in Kraft getreten ist.
20. Im Rahmen dieser Verhandlungen und um den Übergang von einer
sozialistischen Wirtschaft zu einer Marktwirtschaft sicherzustellen, verabschiedete
das Parlament der DDR am 6. März 1990 das Gesetz über die Rechte der
Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform – Nr. 61 unten), auch
Modrow-Gesetz genannt (nach dem Namen des damaligen
Staatsratsvorsitzenden), das am 16. März 1990 in Kraft getreten ist.
Dieses Gesetz hob alle Verfügungsbeschränkungen für die Grundstücke aus der
Bodenreform auf und machte deren Eigentümer zu vollwertigen Eigentümern.
21. Am 18. März 1990 fanden die ersten freien Wahlen in der DDR statt.
22. Am 3. Oktober 1990 wurde das Modrow-Gesetz Bestandteil des Rechts der
Bundesrepublik Deutschland (BRD).
3. Die Verabschiedung des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes vom 14.
Juli 1992 durch das Parlament der Bundesrepublik Deutschland
23. Am 14. Juli 1992 verabschiedete der bundesdeutsche Gesetzgeber das Zweite
Vermögensrechtsänderungsgesetz über die Abwicklung der Bodenreform in den
Ländern im Gebiet der ehemaligen DDR. Es trat am 22. Juli 1992 in Kraft.
24. Bei der Verabschiedung dieses neuen Gesetzes fügte der Gesetzgeber in
Artikel 233 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB – Nrn.
65-69 unten) die §§ 11 bis 16 ein, wobei er sich auf die damals in der DDR in den
Bodenreformverordnungen und den Besitzwechselverordnungen aufgeführten
Grundsätze stützte.
B. Das Verfahren vor den Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland
1. In Bezug auf die beiden ersten Beschwerdeführer
25. Die beiden ersten Beschwerdeführer hatten 1976 ein im Land Sachsen-Anhalt
belegenes Grundstück geerbt. Seit dem 14. Juli 1992 waren sie als Eigentümer im
Grundbuch eingetragen.
26. Am 18. Januar 1994 versuchten sie, ihr Grundstück wieder zu verkaufen.
27. Am 12. Juli 1994 legte das Amt für Landwirtschaft und Flurneuordnung des
Landes Sachsen-Anhalt gegen diesen Kaufvertrag Widerspruch ein, worauf eine
Vormerkung zugunsten des Landesfiskus im Grundbuch eingetragen wurde.
28. Am 15. Februar 1995 hat das vorgenannte Amt vor dem Amtsgericht
Sangerhausen Klage auf unentgeltliche Auflassung des Grundstücks seitens der
Beschwerdeführer an das Land Sachsen-Anhalt erhoben.
29. Mit Urteil vom 2. November 1995 verurteilte das Amtsgericht Sangerhausen
die Beschwerdeführer, ihr Grundstück gemäß Artikel 233 § 11 Abs. 3 und § 12
Abs. 2 und 3 EGBGB (Nrn. 67-69 unten) aufzulassen, da sie keinen Anspruch
hätten, ein im Rahmen der Bodenreform erworbenes Grundstück zu erben. Keiner
von ihnen sei nämlich bei Ablauf des 15. März 1990 in der Land-, Forst- oder
Nahrungsgüterwirtschaft oder im Verlauf der letzten zehn Jahre in einem dieser
Bereiche tätig gewesen.
30. Die Beschwerdeführer legten gegen dieses Urteil Berufung ein.
31. Mit Urteil vom 22. März 1996 wies das Landgericht Halle die Berufung der
Beschwerdeführer mit der Begründung zurück, dass diese im Zeitpunkt des
Erbfalls keine dem Eigentum im Sinne des Grundgesetzes gleichwertige
Rechtsposition erlangt hätten, da ein im Rahmen der Bodenreform erworbenes
Grundstück bereits im Jahre 1946 in der DDR wesentlichen Einschränkungen
unterworfen gewesen sei. Die Bodenreformverordnungen von 1945 und die
Besitzwechselverordnung von 1951 hätten in der Tat vorgesehen, dass die
Veräußerung eines solchen Grundstückes untersagt sei und Entscheidungen über
einen Besitzwechsel dem Staat oblägen. Die Besitzwechselverordnung aus dem
Jahre 1975 hätte nichts an diesem Sachverhalt geändert.
32. Am 24. April 1996 haben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde
erhoben, da sie sich als rechtmäßige Erben und Eigentümer dieses Grundstücks
ansahen. Ihrer Meinung nach liegen die Besitzwechselverordnungen der DDR,
welche die Nutzung eines im Rahmen der Bodenreform erworbenen Grundstücks
einschränkten, zeitlich nach dem Erwerb des Grundstücks durch ihre Mutter und
seien daher in ihrem Fall nicht anzuwenden.
33. Am 17. Juni 1996 entschied das Bundesverfassungsgericht durch eine mit drei
Richtern besetzte Kammer, ihre Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung
anzunehmen.
Das Bundesverfassungsgericht vertrat die Auffassung, dass gemäß seinem Urteil
vom 4. Oktober 1995 zu dieser Frage (Nr. 70 unten) die angegriffenen
Rechtsvorschriften weder gegen das Eigentumsrecht der Beschwerdeführer noch
gegen das Rückwirkungsverbot von Gesetzen oder den Gleichheitssatz verstießen.
Es fügte hinzu, dass die Nutzung eines Bodenreformgrundstücks bereits zu Zeiten
der DDR Beschränkungen unterworfen gewesen sei, die in den
Besitzwechselverordnungen und der Rechtsprechung des Obersten Gerichts der
DDR aufgeführt gewesen seien. Das Oberste Gericht der DDR habe in seinem Urteil
vom 12. März 1953 erklärt, dass die Übertragung eines solchen Grundstücks auf
die Erben nicht automatisch erfolge, sondern auch noch einer staatlichen
Genehmigung bedürfe.
2. In Bezug auf die dritte und vierte Beschwerdeführerin
34. Die dritte und vierte Beschwerdeführerin hatten ihre im Land Mecklenburg-
Vorpommern belegenen Grundstücke 1978 geerbt. Seit 1996 waren sie als
Eigentümerinnen im Grundbuch eingetragen.
35. Sie hatten ihre Grundstücke seit dem 1. Januar 1991 an die Agrargesellschaft
Breesen für einen Zeitraum von 12 Jahren, d.h. bis zum 31. Dezember 2002,
verpachtet.
36. Am 3. Juli 1998 forderte das Land Mecklenburg-Vorpommern die Auflassung
der Grundstücke auf seinen Namen mit der Begründung, dass es nach Artikel 233
§ 11 Abs. 3 und § 12 Abs. 2 und 3 EGBGB (Nrn. 67-69 unten) besser berechtigt
sei.
37. Mit Urteil vom 29. Oktober 1998 verurteilte das Landgericht Neubrandenburg
die Beschwerdeführerinnen dazu, die Auflassung ihrer Grundstücke an das Land
Mecklenburg-Vorpommern zu erklären, da sie am 15. März 1990 weder einer
Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) in der DDR angehört noch
einen Antrag auf Mitgliedschaft in einer LPG gestellt hätten.
38. Die Beschwerdeführerinnen legten gegen dieses Urteil Berufung ein und
trugen insbesondere vor, dass seit dem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs
vom 17. Dezember 1998 (Nr. 71 unten) feststehe, dass Bodenreformgrundstücke
vererblich seien.
39. Mit Urteil vom 17. August 1999 wies das Oberlandesgericht Rostock die
Berufung der Beschwerdeführerinnen mit der Begründung zurück, dass die
streitigen Gesetzesbestimmungen mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Es war
insbesondere der Meinung, dass der Gesetzgeber somit versuchte, die Lücken des
DDR-Gesetzes vom 6. März 1990 zu schließen, das keine Übergangsbestimmungen
für die Fälle enthielt, in denen Besitzwechsel nicht in das Grundbuch eingetragen
worden waren.
40. Die Beschwerdeführerinnen erhoben daraufhin Verfassungsbeschwerde zum
Bundesverfassungsgericht. Sie machten einen Verstoß gegen ihre Eigentums- und
Erbrechtsgarantie sowie einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot und den
Gleichheitssatz geltend. Sie behaupteten, die entschädigungslose Verletzung ihres
Eigentumsrechts fände keinerlei verfassungsmäßige Rechtfertigung und sei weder
verhältnismäßig noch erforderlich gewesen.
Außerdem hätten sie keine Möglichkeit mehr, die erforderlichen Kriterien zu
erfüllen, indem sie beispielsweise Mitglied einer Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaft der DDR würden.
41. Mit Entscheidung vom 6. Oktober 2000 hat das Bundesverfassungsgericht die
Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerinnen nicht zur Entscheidung
angenommen, da sie nicht in ihren Grundrechten verletzt seien.
42. Der maßgebliche Passus dieser Entscheidung lautet wie folgt:
„1. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen weder gegen Art. 14 GG noch
gegen die Grundsätze zum Schutz gegenüber rückwirkenden Gesetzen, der in
dieser Norm eine eigen-ständige Ausprägung erfahren hat (...).
a) Die von den Zivilgerichten angewandte Regelung des Art. 233 § 11 Abs. 3 Satz
1 in Ver-bindung mit § 12 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c, Abs. 3 EGBGB ist mit der
Eigentumsgarantie des Art. 14 GG vereinbar.
aa) Nach der nicht angegriffenen Feststellung des Oberlandesgerichts, für deren
Verfassungs-widrigkeit nichts ersichtlich ist, war das Bodenreformeigentum in der
sowjetischen Besatzungs-zone und in der Deutschen Demokratischen Republik
vererblich. Die Beschwerdeführerinnen sind danach kraft Erbrechts
Eigentümerinnen der streitbefangenen Grundstücke geworden. Ihr Eigentum
unterlag zwar zunächst den Beschränkungen, die sich aus Art. VI Nr. 1 der
Verordnung Nr. 19 über die Bodenreform im Lande Mecklenburg-Vorpommern vom
5. September 1945 (…) und den verschiedenen Besitzwechselverordnungen
ergaben. Diese Beschränkungen sind jedoch mit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes
vom 6. März 1990 entfallen. Es kann deshalb mit dem Oberlandesgericht davon
ausgegangen werden, dass das Bodenreformeigentum ab diesem Zeitpunkt auch
in den so genannten Alterbfällen, in denen der im Grundbuch eingetragene Eigentümer
bereits vor dem 16. März 1990 verstorben war, vollwertigem Eigentum
entsprach und als solches in den Geltungsbereich des Grundgesetzes gelangte.
bb) Art. 233 § 11 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 12 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c,
Abs. 3 EGBGB führt dazu, dass die bisherigen Eigentümer von Grundstücken aus
der Bodenreform ihr Eigentum verlieren. Darin liegt jedoch keine Enteignung im
Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG. Ent-eignung ist der staatliche Zugriff auf das
Eigentum des Einzelnen. Ihrem Zweck nach ist sie auf die vollständige oder
partielle Entziehung konkreter subjektiver, durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG
gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben
gerichtet (...). Demgegenüber geht es bei Art. 233 §§ 11 bis 16 EGBGB um die
nachträgliche Korrektur der durch das Gesetz vom 6. März 1990 erfolgten
ersatzlosen Aufhebung der Besitzwechselvor-schriften und um die Schaffung klarer
Eigentumsverhältnisse an den aus der Bodenreform stammenden Grundstücken
(...). Die hier mittelbar angegriffene Regelung des Art. 233 § 11 Abs. 3 Satz 1 in
Verbindung mit § 12 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c, Abs. 3 EGBGB ist Teil dieses
Regelungskonzepts und stellt daher eine Regelung über die Bestimmung von Inhalt
und Schranken des (Grundstücks-)Eigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2
GG dar.
cc) Der Gesetzgeber hat bei der Erfüllung des ihm in dieser Vorschrift erteilten
Auftrags sowohl der Rechtsstellung des Eigentümers als auch dem aus Art. 14 Abs.
2 GG folgenden Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung Rechnung zu
tragen. Er muss deshalb die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten in einen
gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis bringen. Eine einseitige
Bevorzugung oder Benachteiligung steht mit den verfassungsrechtlichen
Vorstellungen eines sozialgebundenen Privateigentums nicht in Einklang (...).
Der Gesetzgeber darf im Rahmen seiner Regelungsbefugnis nach Art. 14 Abs. 1
Satz 2 GG bei der generellen Neugestaltung eines Rechtsgebiets unter bestimmten
Voraussetzungen auch bestehende, durch die Eigentumsgarantie geschützte
Rechtspositionen beseitigen (…). Auch können grundlegende Veränderungen der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse den Regelungs- und
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers erweitern. Schwierigkeiten, die die
Überführung der sozialistischen Rechts- und Eigentumsordnung einschließlich der
danach erworbenen Rechtspositionen in das Rechtssystem der Bundesrepublik
Deutschland mit sich bringt, darf er deshalb bei Regelungen auf der Grundlage von
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ebenso Rechnung tragen wie dem dazu erforderlichen
Zeitbedarf. Das hat Konsequenzen für die Beur-teilung des jeweils beschlossenen
Regelungswerks. Einzelne belastende Vorschriften dürfen weder aus dem
Regelungszusammenhang gelöst und für sich betrachtet noch ohne Rücksicht
darauf gewürdigt werden, dass der angestrebte Rechtszustand nur in Schritten
erreichbar war (...).
dd) Nach diesen Maßstäben steht Art. 233 § 11 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit
§ 12 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c, Abs. 3 EGBGB mit Art. 14 Abs. 1 GG in Einklang.
aaa) Die Regelung dient einem legitimen Regelungsziel.
Nach der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs, die sich das Oberlandesgericht
im Aus-gangsverfahren zu Eigen gemacht hat, schließt Art. 233 § 11 Abs. 3 Satz 1
in Verbindung mit § 12 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c, Abs. 3 EGBGB eine verdeckte
Regelungslücke, die das Gesetz vom 6. März 1990 für die hier in Rede stehenden
Alterbfälle enthielt. An diese Erkenntnis ist das Bundesverfassungsgericht im
Grundsatz gebunden. Wie die Feststellung und Würdigung des
entscheidungserheblichen Sachverhalts sind die Auslegung und Anwendung des
Rechts eines anderen Staates Sache der allgemein zuständigen Gerichte. Das
Bundesverfassungsgericht kann insoweit nur unter besonderen Umständen
korrigierend eingreifen. Die Voraussetzungen dafür wären hier nur gegeben, wenn
die dem angegriffenen Urteil des Oberlandesgerichts zu-grunde liegende
Würdigung des Rechts der Deutschen Demokratischen Republik hinsichtlich einer
verdeckten Regelungslücke im Gesetz vom 6. März 1990 Art. 3 Abs. 1 GG in seiner
Bedeutung als Willkürverbot (...) verletzen würde (...). Dies ist aber nicht der Fall.
Der Bundesgerichtshof hat unter Heranziehung der Gesetzesmaterialien dargelegt,
dass die Beratung in der Volkskammer am 6. März 1990 die Anpassung der
gesetzlichen Situation der Landwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik
an den Wandel zu einer sozialen, marktwirtschaftlich orientierten Landwirtschaft
zum Ziel hatte. Dabei habe die Änderung des Gesetzes über die
landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften im Vordergrund gestanden.
Daneben sollten aber auch für Grundstücke aus der Bodenreform die für sie
geltenden Verfü-gungsbeschränkungen aufgehoben und das Erbrecht für die
Zukunft sichergestellt werden. Dabei sei nicht erkannt worden, dass die hierzu für
notwendig erachtete Aufhebung der Besitzwechsel-verordnungen ohne eine
Übergangsregelung für nicht vollzogene Übertragungen und Rückfüh-rungen auch
die zurückliegenden Erbfälle einer Regelung zuführe. Der Sicherung der Landwirtschaft
unter marktwirtschaftlichen Bedingungen habe es aber nicht gedient, das
Eigentum an landwirtschaftlich genutzten Grundstücken ohne weitere Regelungen
den Erben verstorbener Begünstigter auch dann zuzuweisen, wenn diese weder in
der Deutschen Demokratischen Republik gelebt hätten noch in der Landwirtschaft
tätig gewesen seien (...).
Diese Begründung ist nachvollziehbar und lässt Anhaltspunkte für die Annahme,
die Ein-schätzung des Bundesgerichtshofs und damit auch die des
Oberlandsgerichts im vorliegenden Fall beruhten im Sinne des
verfassungsrechtlichen Willkürverbots auf sachfremden Erwägungen, nicht
erkennen. Ob die Entstehungsgeschichte des Gesetzes vom 6. März 1990 und die
weitere Rechtsentwicklung im Beitrittsgebiet bis zur Wiedervereinigung eher den
Schluss nahe legen, der Gesetzgeber habe bewusst auch für die Alterbfälle die
hinsichtlich des Bodenreformeigentums bestehenden Verfügungsbeschränkungen
und die Besitzwechselverordnungen ohne jegliche Übergangsvorschriften aufheben
wollen, ist vom Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden.
bbb) Auch die Schließung der vom Bundesgerichtshof erkannten Regelungslücke
durch die angegriffene Regelung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie
führt vor dem Hinter-grund der früheren Besitzwechselvorschriften der Deutschen
Demokratischen Republik zu einer sachgerechten und angemessenen, den
Betroffenen auch zumutbaren Eigentumszuordnung, die für die Zukunft klare
Verhältnisse schafft.
1. Nach § 4 Abs. 1 der Besitzwechselverordnung vom 7. August 1975 in der
Fassung der Ver-ordnung vom 7. Januar 1988 hatte der Rat des Kreises auf
Verlangen des Erben eines Bodenre-formeigentümers ihm oder einem seiner von
ihm benannten Verwandten die Rechte und Pflichten zur Bewirtschaftung des
Bodenreformgrundstücks zu übertragen, wenn er oder der Verwandte das
Grundstück als Genossenschaftsmitglied oder Arbeiter zweckentsprechend nutzen
würde. Mehrere Erben mussten in angemessener Frist dem Rat des Kreises
vorschlagen, welchem Erben oder Verwandten die Rechte und Pflichten zur
Bewirtschaftung des Bodenreformgrund-stücks übertragen werden sollten. Waren
die Voraussetzungen für eine Übertragung nicht gegeben, war das
Bodenreformgrundstück nach § 4 Abs. 5 der Verordnung in den staatlichen
Bodenfonds zurückzuführen.
2. Durch Art. 233 § 11 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 12 EGBGB werden diese
Rechts-grundsätze in pauschalierender Weise nachgezeichnet. Damit werden die
Betroffenen so gestellt, wie sie gestanden hätten, wenn die
Besitzwechselvorschriften vor dem In-Kraft-Treten des Gesetzes vom 6. März 1990
von den Behörden der Deutschen Demokratischen Republik korrekt angewendet
und vollzogen worden wären oder der Gesetzgeber der Deutschen Demokratischen
Republik schon vor der Wiedervereinigung eine dem früheren Besitzwechselrecht
entsprechende Übergangsregelung getroffen hätte. Schutzwürdiges Vertrauen der
Erben von Bodenreformeigen-tümern ist dadurch, wie mit Recht auch das
Oberlandesgericht angenommen hat, nicht zerstört worden.
Vertrauen in den Fortbestand von Rechtsvorschriften der Deutschen
Demokratischen Republik konnte sich in der Zeit nach der Wende mit Blick auf
eine mögliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht allgemein
bilden, sondern nur dort, wo besonderer Anlass für die Erwartung bestand, dass
Recht der Deutschen Demokratischen Republik ausnahmsweise in Kraft bleiben
werde (...). Das Vertrauen in die grundsätzliche Anerkennung von vor dem In-
Kraft-Treten des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet erworbenen
Eigentumspositionen kann daher nicht denselben weit gehenden Schutz
beanspruchen wie das Vertrauen in den Fortbestand von Rechten, die unter der
Geltung des Grundgesetzes erlangt worden sind. Jedenfalls kann für den Schutz
dieses Vertrauens nur die Sach- und Rechtslage maßgeblich sein, die der bundesdeutsche
Gesetzgeber am Ende der staatlichen Existenz der Deutschen
Demokratischen Republik vorgefunden hat und die im Zuge der Wiedervereinigung
gleichsam als normativer Bestandteil in den Geltungsbereich des Grundgesetzes
gelangt ist (...).
Danach konnten die Erben von Bodenreformeigentümern nach dem In-Kraft-
Treten des Gesetzes vom 6. März 1990 nicht in schützenswerter Weise darauf
vertrauen, ihr auf der unterbliebenen Umsetzung der Besitzwechselvorschriften der
Deutschen Demokratischen Republik beruhendes Eigentum behalten zu dürfen. Ein
besonderer Anlass für die Erwartung, auch in den Alterbfällen werde das durch
dieses Gesetz zum Volleigentum aufgewertete Eigentum an
Bodenreformgrundstücken weiterhin Bestand haben, kann nicht aus der sowohl
einfachrechtlich als auch verfassungsrechtlich vollzogenen Hinwendung der
Deutschen Demokratischen Republik zu einer Privateigentumsordnung hergeleitet
werden. Denn danach sollte nur das Privateigentum gewährleistet werden, das
dem Einzelnen bewusst und gewollt eingeräumt worden ist. Dies ist hinsichtlich
des Bodenreformeigentums in den Alterbfällen nicht geschehen, weil das Gesetz
vom 6. März 1990 insoweit, wie vom Bundesgerichtshof festgestellt, eine
verdeckte Regelungslücke enthielt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der
Gesetz-geber der Deutschen Demokratischen Republik bei zutreffendem Erkennen
der Sach- und Rechtslage in den Fällen, in denen kein Erbe die Voraussetzungen
für eine Übertragung der Rechte und Pflichten zur Bewirtschaftung der
Grundstücke an ihn erfüllt hätte, selbst eine der Rückführung der Grundstücke in
den staatlichen Bodenfonds entsprechende Regelung getroffen hätte.
Vor diesem Hintergrund durfte der gesamtdeutsche Gesetzgeber die seinerzeit
versäumten Regelungen in pauschalierender Weise nachholen. Dass er dies nicht
schon mit dem Einigungs-vertrag getan hat, begründet ebenfalls kein
schutzwürdiges Vertrauen in den Fortbestand der durch das Gesetz vom 6. März
1990 geschaffenen Rechtslage. Angesichts der Vielzahl und Kompliziertheit der im
Rahmen der Wiedervereinigung zu lösenden Aufgaben war der Einigungsvertragsgesetzgeber
nicht in der Lage, alle Vorschriften zur Überleitung des Rechts
der Deutschen Demokratischen Republik in dasjenige der Bundesrepublik
Deutschland in gewisser-maßen einem Federstrich abschließend zu erlassen (...).
Es musste deshalb jeder Rechtsunter-worfene damit rechnen, dass zunächst
unverändert übernommene Rechtspositionen Änderungen und Konkretisierungen
durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber erfahren würden, sobald dieser die
Tragweite der in der Deutschen Demokratischen Republik erlassenen Gesetze im
Einzelnen erkannt haben würde. Dies gilt auch für das Bodenreformeigentum, das
vom Gesetzgeber der Deutschen Demokratischen Republik im Zuge der
Privatisierung der Landwirtschaft zum Volleigentum aufgewertet wurde.“
3. In Bezug auf die fünfte Beschwerdeführerin
43. Die fünfte Beschwerdeführerin hatte 1986 ihr im Land Brandenburg gelegenes
Grundstück geerbt.
44. Von 1968 bis 1979 war sie Mitglied einer Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaft in der DDR. Ab dem 1. Januar 1980 war sie beim
Ministerium für Staatssicherheit der DDR als Reinigungskraft tätig. Nach dessen
Auflösung arbeitete sie bis zum 31. Dezember 1990 bei der Nationalen
Volksarmee.
45. Vor der deutschen Wiedervereinigung hatte die Stadt Frankfurt (Oder) die
Erholungseinrichtung Helensee auf diesem Grundstück errichtet. Nach der
Wiedervereinigung hatte die Stadt dieses Erholungszentrum an eine Gesellschaft,
die dieses Zentrum verwaltete, verpachtet. Aus diesem Grund hatte die
Beschwerdeführerin einen Betrag von 60.000 DM erhalten, der den
ungerechtfertigt von der Stadt vereinnahmten Pachtzinsen entsprach.
46. Seit dem 30. November 1991 war die Beschwerdeführerin als Eigentümerin
dieser Liegenschaft im Grundbuch eingetragen. Am 3. September 1996 schloss sie
mit der Verwaltungsgesellschaft dieser Erholungseinrichtung einen Pachtvertrag
gegen Zahlung von Pachtzinsen in Höhe von 12.000 DM jährlich.
47. Am 28. Juli 1995 forderte das Land Brandenburg die Auflassung des
Grundstücks auf seinen Namen mit der Begründung, dass es nach Artikel 233 § 11
Abs. 3 in Verbindung mit § 12 Abs. 2 und 3 EGBGB (Nrn. 67-69 unten) besser
berechtigt sei.
48. Mit Urteil vom 16. Juli 1997 verurteilte das Landgericht Frankfurt (Oder) die
Beschwerdeführerin, ihr Grundstück aufzulassen, weil sie mit Ablauf des 15. März
1990 nicht in der Land-, Forst- oder Nahrungsgüterwirtschaft tätig gewesen sei. Es
verurteilte sie ebenfalls, an das Land Brandenburg 60.000 DM zuzüglich 4 %
Zinsen jährlich ab dem 24. Januar 1997 zu zahlen.
49. Mit Urteil vom 10. Juni 1998 bestätigte das Brandenburgische
Oberlandesgericht das Urteil insbesondere mit der Begründung, dass die Tatsache
allein, dass die Beschwerdeführerin formal ihre Mitgliedschaft in der
Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft zu keinem Zeitpunkt aufgegeben
habe, selbst nachdem sie ihre Arbeit beim Ministerium für Staatssicherheit
aufgenommen habe, nicht ausreiche, um eine Zuteilung des streitgegenständlichen
Grundstücks an sie zu ermöglichen. Ferner war das Oberlandesgericht der
Meinung, dass Artikel 233 § 11 weder die Eigentumsgarantie noch das
Rückwirkungsverbot verletze, selbst wenn der Neubauer einen gewissen Betrag bei
der Zuteilung seines Bodenreformgrundstücks gezahlt habe; hierbei nahm es auf
die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juni 1996 und 4.
Oktober 1995 Bezug.
50. Mit Entscheidung vom 15. Juli 1999 nahm der Bundesgerichtshof die Revision
der Beschwerdeführerin in Bezug auf die Höhe ihrer Verurteilung an und wies sie
im Übrigen zurück.
51. Mit Urteil vom 4. Februar 2000 verwies der Bundesgerichtshof die Sache in
Bezug auf den ersten Punkt an das Oberlandesgericht zurück, weil die
Beschwerdeführerin berechtigt war, die Nutzungsentschädigungen, die sie vor dem
22. Juli 1992 von der Stadt Frankfurt (Oder) erhalten hatte, zu behalten.
52. Mit Urteil vom 26. Juli 2000 verurteilte schließlich das Brandenburgische
Oberlandesgericht die Beschwerdeführerin dazu, den Betrag von 27.000 DM
zurückzuzahlen.
53. Die Beschwerdeführerin erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde zum
Bundesverfassungsgericht. Sie machte einen Verstoß gegen ihre Eigentums- und
Erbrechtsgarantie sowie einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot und den
Gleichheitssatz geltend. Nach ihrer Auffassung fand die entschädigungslose
Verletzung ihres Eigentumsrechts keinerlei verfassungsmäßige Rechtfertigung und
war weder verhältnismäßig noch erforderlich gewesen.
54. Mit Grundsatzentscheidung vom 25. Oktober 2000 hat das
Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin
nicht zur Entscheidung angenommen, da sie nicht in ihren Grundrechten verletzt
sei (Nr. 72 unten).
II. DAS MASSGEBLICHE INNERSTAATLICHE UND INTERNATIONALE RECHT
A. Zur Zeit der DDR geltendes Recht und damalige Praxis
1. Die Bodenreformverordnungen von 1945
55. Die Bodenreformverordnungen von 1945 bildeten die gesetzliche Grundlage
der Bodenreform und unterwarfen die Grundstücke aus der Bodenreform
Verfügungsbeschränkungen. Diese Verordnungen sahen insbesondere vor, dass
Bodenreformgrundstücke weder geteilt noch verkauft, verpachtet oder verpfändet
werden durften und dass ein Teil der Ernte an den Staat abgetreten werden
musste. In bestimmten Ausnahmefällen waren jedoch eine Teilung und
Verpachtung mit Zustimmung der örtlichen Verwaltung möglich. Die
Zuteilungsurkunden bezeichneten das Land als „persönliches vererbbares
Eigentum“.
56. Das Ziel dieser Verordnungen bestand darin, dafür Sorge zu tragen, dass
bestimmte Flächen landwirtschaftlich genutzt wurden, um die Versorgung der
Bevölkerung mit Nahrung sicherzustellen.
2. Die Besitzwechselverordnungen von 1951, 1975 und 1988
57. Die Besitzwechselverordnungen vom 21. Juni 1951, 7. August 1975 und 7.
Januar 1988 regelten die Fälle der Rückführung der Grundstücke in den
Bodenfonds oder der Genehmigungen der Zuteilung an Dritte, unter der
Voraussetzung, dass diese sich verpflichteten, die Grundstücke landwirtschaftlich
zu nutzen.
58. Da die Beschwerdeführer ihr Eigentum 1976, 1978 bzw. 1986 in der DDR
geerbt hatten, findet die Besitzwechselverordnung vom 7. August 1975 i.d.F. der
Verordnung vom 7. Januar 1988 Anwendung.
59. Die einschlägigen Passagen dieser Verordnung lauten wie folgt:
§ 1
„Bodenreformgrundstücke können (...) durch Besitzwechsel an Mitglieder
landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften und Arbeiter der Land-, Forstund
Nahrungsgüterwirtschaft (...) übertragen werden.
§ 4 Abs. 1
Der Erbe tritt in die mit dem Bodenreformgrundstück verbundenen Rechte und
Pflichten ein, sofern er zu dem unter § 1 genannten Personenkreis gehört und in
der Lage ist, das Grundstück zweckentsprechend zu nutzen.
§ 4 Abs. 3
Sind die Voraussetzungen für die Übertragung des Nutzungsrechts am
Bodenreformgrundstück nicht gegeben, ist das Bodenreformgrundstück in den
staatlichen Bodenfonds zurückzuführen.“
60. Häufig wurden diese Übertragungen in der Praxis jedoch nicht durchgeführt
und in das Grundbuch eingetragen, was zu einem Missverhältnis zwischen den
Personen, die die Grundstücke tatsächlich landwirtschaftlich nutzten, und den
Personen, die im Grundbuch als Eigentümer eingetragen waren, führte.
3. Das Gesetz vom 6. März 1990 über die Rechte der Eigentümer von
Grundstücken aus der Bodenreform
61. Das am 16. März 1990 in Kraft getretene Gesetz vom 6. März 1990 über die
Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform, auch Modrow-
Gesetz genannt, hob alle Verfügungsbeschränkungen für diese Grundstücke auf.
Dieses Gesetz lautet wie folgt:
§ 1
„Für das Recht zum Besitz, zur Nutzung und zur Verfügung von Grundstücken aus
der Bodenreform gelten die Bestimmungen des Zivilgesetzbuches der Deutschen
Demokratischen Republik vom 19. Juni 1975 (...). In Rechtsvorschriften enthaltene
entgegenstehende Verfügungsbeschränkungen sind aufgehoben.
§ 2
(1) Für den Verkehr mit Grundstücken gemäß § 1 findet die
Grundstücksverkehrsordnung vom 15. Dezember 1977 (...) i.d.F. der Verordnung
vom 14. Dezember 1988 zur Anpassung von Regelungen über Rechtsmittel der
Bürger und zur Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeit für die Nachprüfung von
Verwaltungsentscheidungen (...) Anwendung.
(2) Hinsichtlich des Schutzes der Nutzung des land- und forstwirtschaftlichen
Bodens gilt die Bodennutzungsverordnung vom 26. Februar 1981 (...).
§ 3
(1) Dieses Gesetz tritt mit seiner Veröffentlichung in Kraft.
(2) Gleichzeitig treten außer Kraft:
- Verordnung vom 7. August 1975 über die Durchführung des Besitzwechsels bei
Bodenreformgrundstücken (...),
- Zweite Verordnung vom 7. Januar 1988 über die Durchführung des
Besitzwechsels bei Bodenreformgrundstücken (...).“
B. Die Verträge und Erklärungen zur deutschen Einheit
1. Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und
Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen
Demokratischen Republik
62. Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und
Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen
Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 nimmt in Artikel 1 auf die soziale
Marktwirtschaft sowie den Schutz des Eigentumsrechts Bezug.
2. Die Gemeinsame Erklärung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen
Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen
63. Im Verlauf der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung zwischen
den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR und den vier
ehemaligen Besatzungsmächten (Frankreich, Vereinigtes Königreich, die
Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion) haben die beiden
deutschen Regierungen am 15. Juni 1990 eine Gemeinsame Erklärung zur
Regelung offener Vermögensfragen formuliert, die Bestandteil des
Einigungsvertrags vom 31. August 1990 wurde.
64. In dieser Erklärung haben die beiden deutschen Regierungen angegeben, dass
bei der Suche nach einer Lösung der streitigen Vermögensfragen unter
Berücksichtigung der Grundsätze der Rechtssicherheit und Rechtseindeutigkeit
sowie des Schutzes des Eigentumsrechts ein sozial verträglicher Ausgleich der
unterschiedlichen Interessen zu schaffen sei.
C. Das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht und die dortige
Praxis
1. Das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz vom 14. Juli 1992
65. Am 14. Juli 1992 verabschiedete der bundesdeutsche Gesetzgeber das Zweite
Vermögensrechtsänderungsgesetz über die Abwicklung der Bodenreform in den
Ländern im Gebiet der ehemaligen DDR. Es trat am 22. Juli 1992 in Kraft.
66. Bei der Verabschiedung dieses neuen Gesetzes fügte der Gesetzgeber in
Artikel 233 EGBGB die §§ 11 bis 16 ein, wobei er sich auf die damals in den
Bodenreformverordnungen und den Besitzwechselverordnungen aufgeführten
Grundsätze stützte.
67. Artikel 233 § 11 Abs. 2 EGBGB bestimmt, dass ein Grundstück aus der
Bodenreform grundsätzlich den Erben des eingetragenen Eigentümers übertragen
wird, es sei denn, dass Personen oder Stellen existieren, die eine „bessere
Berechtigung“ für diese Zuweisung nach § 12 dieses Artikels haben.
Diese Personen oder Stellen können die unentgeltliche Auflassung des Grundstücks
verlangen.
68. Artikel 233 § 12 unterscheidet bei den Personen oder Stellen, die eine bessere
Berechtigung als die Erben dieser Grundstücke haben, je nachdem, ob der im
Grundbuch eingetragene Eigentümer bei Inkrafttreten des DDR-Gesetzes vom 6.
März 1990 über die Rechte der Eigentümer bereits verstorben war oder noch lebte.
Sollte es sich bei dem im Grundbuch eingetragenen Eigentümer bei Ablauf des
15. März 1990 um eine noch lebende Person handeln, gelten als besser
Berechtigte demnach die Personen, denen die Grundstücke nach den Vorschriften
über die Bodenreform oder den Besitzwechsel förmlich übergeben worden sind,
auch wenn der entsprechende Besitzwechsel nicht im Grundbuch eingetragen
worden ist.
Ist demgegenüber der im Grundbuch eingetragene Eigentümer vor dem 15. März
1990 verstorben, gelten als besser Berechtigte
1. diejenigen Personen, denen das Grundstück nach den Vorschriften über die
Bodenreform oder den Besitzwechsel förmlich übergeben worden ist, auch wenn
der entsprechende Besitzwechsel nicht im Grundbuch eingetragen worden ist;
2. der Erbe des zuletzt im Grundbuch eingetragenen Eigentümers, wenn er
zuteilungsfähig ist, d.h. in der Land-, Forst- oder Nahrungsgüterwirtschaft tätig
war (siehe Artikel 233 § 12 Abs. 3, unten);
3. der Fiskus des Landes, in dem das betreffende Grundstück liegt.
69. Artikel 233 § 12 Abs. 3 dieses Gesetzes sieht nämlich vor, dass nur diejenige
Person ein im Rahmen der Bodenreform erworbenes Grundstück erben kann, die
bei Ablauf des 15. März 1990 im Hoheitsgebiet der DDR in der Land-, Forst- oder
Nahrungsgüterwirtschaft oder in den letzten zehn Jahren davor in einem dieser
Bereiche tätig war. Ist dies nicht der Fall, fällt das fragliche Grundstück an den
Fiskus des Landes, in dem es liegt. Die Rechtsprechung hat anschließend diese
Voraussetzung um das Erfordernis der Mitgliedschaft in einer Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaft in der DDR erweitert (BGHZ 136, S. 283).
2. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des
Bundesverfassungsgerichts
70. In seinem Urteil vom 4. Oktober 1995 hat das Bundesverfassungsgericht die
Auffassung vertreten, dass diese Rechtsvorschriften mit dem Grundgesetz
vereinbar seien, da bereits zur Zeit der DDR die Übertragung eines im Rahmen der
Bodenreform erworbenen Grundstücks auf die Erben nicht nach den allgemeinen
Grundsätzen des Zivilrechts erfolgt sei, sondern von Anfang an besonderen
Vorschriften unterlegen habe.
71. In seinem Grundsatzurteil vom 17. Dezember 1998 (veröffentlicht in der
Zeitschrift „
Rechtspfleger
“ vom Jahre 1999, S. 222 ff.) wies der Bundesgerichtshof
zum ersten Mal darauf hin, dass beim Tod einer Person, die ein Grundstück im
Rahmen der Bodenreform erworben habe, dieses Grundstück auf die Erben
übertragen werden könne. Er fügte jedoch hinzu, dass Artikel 233 §§ 11 bis 16
EGBGB mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Der Gesetzgeber habe nämlich
hierdurch versucht, die Lücken des DDR-Gesetzes vom 6. März 1990 zu schließen,
das nicht der Tatsache Rechnung getragen habe, dass die DDR-Behör-den sehr
häufig in der Praxis nicht für die Rückführung der Grundstücke in den Bodenfonds
und die Änderung der Eintragungen im Grundbuch nach den Grundsätzen der
Bodenreformverordnungen und der Besitzwechselverordnungen Sorge getragen
hatten.
72. Ebenso vertrat das Bundesverfassungsgericht in zwei Grundsatzurteilen vom
6. und 25. Oktober 2000 (1 BvR 1637/99 und 1 BvR 2062/99) die Auffassung,
dass Artikel 233 §§ 11 bis 16 EGBGB mit dem Grundgesetz vereinbar sei, selbst
wenn jetzt feststehe, dass die Grundstücke aus der Bodenreform hätten
übertragen werden können.
D. Die von den Parteien beigebrachten statistischen Daten
1. Die Fälle der Rückführung der Bodenreformgrundstücke in den Bodenfonds in
der DDR
73. Den von der Regierung für das Land Mecklenburg-Vorpommern vorgelegten
Zahlen zufolge waren vor 1990 in der DDR in etwa 80.000 Fällen
Bodenreformgrundstücke in den Bodenfonds zurückgeführt worden.
74. Die Beschwerdeführer stellen diese Zahlen in Abrede und sind der Auffassung,
dass es sich hierbei wahrscheinlich um die freiwillige Rückführung von
Grundstücken handelt.
Sie führen aus, dass in Bezug auf die gesamte DDR zwischen 1946 und 1952
ungefähr 80.000 Grundstücke wegen der schwierigen Bedingungen für die
Bewirtschaftung dieser Grundstücke nach dem Krieg freiwillig in den Bodenfonds
zurückgeführt worden seien (Bell,
Enteignungen in der Landwirtschaft der DDR
nach 1949 und deren politische Gründe
, 1992)
2. Die Folgen des Gesetzes aus dem Jahr 1992
75. Den von der Bundesregierung auch für das Land Mecklenburg-Vorpommern
vorgelegten Zahlen zufolge konnten in 41.000 Fällen die Erben von
Bodenreformgrundstücken ihr Land behalten, in 3.300 Fällen fielen die
Grundstücke an das Land, weil keine Erben ausfindig gemacht werden konnten,
und in 4.400 Fällen verlangte das Land die Zuteilung der Grundstücke von nicht
zuteilungsfähigen Erben.
76. Die Beschwerdeführer bestreiten diese Zahlen und vertreten die Auffassung,
dass insgesamt zwischen 50.000 und 70.000 Personen als Erben von
Bodenreformgrundstücken bereits entschädigungslos zugunsten des Fiskus der
Länder enteignet worden seien.
Sie weisen beispielsweise darauf hin, dass das Land Sachsen-Anhalt in 17.288
Fällen auf außergerichtlichem Weg und in 677 Fällen auf gerichtlichem Weg die
Auflassung der Grundstücke der Erben erwirkt habe; das Land Brandenburg habe
seinerseits in 14.500 Fällen auf außergerichtlichem Weg und in 3.542 Fällen im
Klagewege Ansprüche zur Auflassung der Grundstücke der Erben geltend gemacht.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 1 DES PROTOKOLLS NR. 1
77. Die Beschwerdeführer behaupten, dass die ihnen auferlegte Verpflichtung,
ihre Grundstücke gemäß Artikel 233 § 11 Abs. 3 und § 12 Abs. 2 und 3 des
bundesdeutschen Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch unentgeltlich
aufzulassen, ihr in Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verankertes Recht auf Achtung
ihres Eigentums verletzt habe, der wie folgt lautet:
„Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres
Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass
das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch
die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.
Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze
anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang
mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder
sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“
A. Das Vorliegen eines Eingriffs in das Recht auf Eigentum
78. Wie er es bereits mehrfach getan hat, ruft der Gerichtshof in Erinnerung, dass
Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 drei verschiedene Vorschriften enthält: „die erste
Vorschrift in Absatz 1 erster Satz ist allgemeiner Art und enthält den Grundsatz
der Achtung des Eigentums; die zweite Vorschrift in Absatz 1 zweiter Satz betrifft
die Eigentumsentziehung, die bestimmten Bedingungen unterstellt wird; die dritte
Vorschrift in Absatz 2 gibt den Vertragsstaaten unter anderem die Befugnis, die
Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse zu regeln (...).
Es handelt sich hierbei jedoch nicht um Vorschriften, die in keinem wechselseitigen
Zusammenhang stehen. Die zweite und dritte beziehen sich auf besondere
Beispiele für Verletzungen des Rechts auf Eigentum; daher sind sie im Lichte des
in der ersten Vorschrift verankerten Grundsatzes auszulegen“ (siehe u.a. Urteil in
der Sache
James u.a. ./. Vereinigtes Königreich
, 21. Februar 1986, Serie A, Band
98, S. 29-30, Nr. 37, das teilweise den Wortlaut der Analyse aufgreift, die der
Gerichtshof in seinem Urteil in der Sache
Sporrong und Lönnroth ./. Schweden
, 23.
September 1982, Serie A, Band 52, S. 24, Nr. 61, entwickelt hat; siehe auch die
Urteile in der Sache
Die heiligen Klöster ./. Griechenland
, 9. Dezember 1994, Serie
A, Band 301-A, S. 31, Nr. 56, in der Sache
Iatridis ./. Griechenland
[GK], Nr.
31107/96, CEDH 1999-II, Nr. 55, und in der Sache
Beyeler ./. Italien
[GK], Nr.
33202/96, CEDH 2000-I, Nr. 106).
79. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Regierung nicht die Auffassung der
Kammer in Abrede stellt, die in ihrem Urteil vom 22. Januar 2004 (Nrn. 65-70)
festgestellt hatte, dass im vorliegenden Fall ein Entziehung des Eigentums im
Sinne des Artikels 1 zweiter Satz des Protokolls Nr. 1 stattgefunden hat.
80. Der Gerichthof schließt sich der Analyse der Kammer in diesem Punkt an und
er hat jetzt zu ermitteln, ob der gerügte Eingriff unter dem Gesichtspunkt dieser
Bestimmung gerechtfertigt ist.
B. Die Rechtfertigung des Eingriffs in das Recht auf Eigentum
1. „Gesetzlich vorgesehen“
81. Der Gerichtshof erinnert daran, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 vor allem
verlangt, dass der Eingriff einer Behörde in die Ausübung des Rechts auf Achtung
des Eigentums gesetzlich vorgesehen ist: Nach Absatz 1 zweiter Satz darf
Eigentum nur „unter den durch Gesetz vorgesehenen Bedingungen“ entzogen
werden, und Absatz 2 erkennt den Staaten das Recht zu, die Benutzung des
Eigentums durch die Anwendung von „Gesetzen“ zu regeln. Außerdem muss das
Gesetz, auf dem der Eingriff beruht, mit dem innerstaatlichen Recht des
Vertragsstaates, einschließlich der maßgeblichen Bestimmungen der Verfassung,
vereinbar sein (siehe
Ehemaliger König von Griechenland u.a. ./. Griechenland
[GK], Nr. 25701/94, CEDH 2000-XII, Nrn. 79 und 82).
82. Die Beschwerdeführer behaupten, dass der Eingriff nicht gesetzlich
vorgesehen gewesen sei, da der deutsche Gesetzgeber im Jahr 1992 von dem
irrtümlichen Grundsatz ausgegangen sei, dass die Bodenreformgrundstücke in der
DDR nicht vererblich seien. Aus diesem Grund habe das Zweite
Vermögensrechtsänderungsgesetz vom 14. Juli 1992 zunächst das Eigentum auf
die Beschwerdeführer übertragen, bevor es ihnen danach wieder zugunsten des
Fiskus entzogen worden sei. Die Beschwerdeführer seien bereits Eigentümer dieser
Grundstücke, die sie in der DDR geerbt hatten, gewesen, und wenn der
Gesetzgeber ihnen kein Eigentumsrecht, über das sie bereits verfügten, habe
zuweisen können, so habe er es ihnen auch nicht rechtsgültig entziehen können.
83. Die Regierung behauptet, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen gewesen sei
und verweist auf die Argumentation der Kammer zu diesem Punkt.
84. Der Gerichtshof stellt fest, dass im vorliegenden Fall die streitige Maßnahme
auf Artikel 233 § 11 Abs. 3 und § 12 Abs. 2 und 3 EGBGB i.d.F. des Zweiten
Vermögensrechtsänderungsgesetzes vom 14. Juli 1992 beruhte (Nrn. 65-69 oben).
Dieser Artikel enthält sehr klare Bestimmungen über die Zuteilung der
Bodenreformgrundstücke und über die Bedingungen, die die Erben zu erfüllen
haben, um diese Grundstücke behalten zu können. Der deutsche Gesetzgeber
wollte in der Tat die Lücken des Modrow-Gesetzes schließen; zu diesem Zweck
legte er fest, dass nur diejenigen Personen nach den Besitzwechselverordnungen
in der DDR diese Grundstücke erben konnten, die insbesondere in der
Landwirtschaft tätig und Mitglied einer Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaft waren (Nrn. 57-59 oben).
85. In der Folge haben die deutschen Gerichte die Beschwerdeführer verpflichtet,
ihre Grundstücke in Anwendung dieser Bestimmungen an den Fiskus aufzulassen,
und das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen vom 6. und 25.
Oktober 2000 die Auffassung vertreten, dass diese Bestimmungen mit dem
Grundgesetz vereinbar seien (Nrn. 41-42 und 54 oben).
86. Der Gerichtshof ist der Meinung, dass diese Auslegung nicht willkürlich
gewesen ist. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es in erster Linie
den innerstaatlichen Behörden und insbesondere den Gerichten obliegt, das
innerstaatliche Recht auszulegen und anzuwenden und insbesondere über
verfassungsrechtliche Fragen zu entscheiden (siehe unter vielen anderen
Wittek ./.
Deutschland
, Nr. 37290/97, CEDH 2000–XI, Nr. 49,
Forrer-Niedenthal ./.
Deutschland
, Nr. 47316/99, Nr. 39, 20. Februar 2003, und vorgenannte
Rechtssache
Ehemaliger König von Griechenland
, Nr. 82).
87. Wie die Kammer (Nrn. 71-76) gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass
die Eigentumsentziehung, wie es Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verlangt, gesetzlich
vorgesehen war.
2. „Aus Gründen des öffentlichen Interesses“
88. Der Gerichtshof muss nun ermitteln, ob diese Eigentumsentziehung ein
legitimes Ziel verfolgte, d.h. ob „ein öffentliches Interesse“ im Sinne der zweiten
Vorschrift von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 gegeben war.
89. Die Beschwerdeführer behaupten, dass der streitige Eingriff kein legitimes Ziel
verfolgt habe, da sich der deutsche Gesetzgeber im Jahr 1992 nicht bewusst
gewesen sei, dass sie bereits über ein Eigentumsrecht verfügten, und der
Bundesgerichtshof auch heute noch anerkenne, dass das Zweite
Vermögensrechtsänderungsgesetz auf der Annahme beruht habe, dass die
Bodenreformgrundstücke nicht vererblich waren.
Die Beschwerdeführer werfen dem Gesetzgeber außerdem vor, dass er das alte,
zur Zeit der DDR geltende sozialistische Recht mit Verschlechterungen habe wieder
aufleben lassen wollen, indem die Beschwerdeführer daran gehindert worden
seien, Maßnahmen zu ergreifen, die es ihnen ermöglicht hätten, ihr Eigentum zu
bewahren. In Wirklichkeit habe der Staat nur versucht, dieser Grundstücke
habhaft zu werden, ohne die von dieser Maßnahme betroffenen Erben zu
entschädigen.
90. Die Regierung behauptet, der streitige Eingriff habe einen im öffentlichen
Interesse liegenden Zweck verfolgt, nämlich die Schaffung klarer
Eigentumsverhältnisse an den aus der Bodenreform stammenden Grundstücken.
Deswegen sei der deutsche Gesetzgeber verpflichtet gewesen, die Lücken des
Modrow-Gesetzes zu schließen und das Unrecht dieses Gesetzes zu korrigieren,
das nicht der Tatsache Rechnung getragen habe, dass die DDR-Behörden sehr
häufig ihre eigenen Regelungen nicht korrekt angewandt hätten. Damals hätten
nämlich nur diejenigen Personen diese Grundstücke erben können, die tatsächlich
in der Landwirtschaft tätig gewesen seien. Andernfalls hätten die Grundstücke in
den Bodenfonds zurückgeführt werden müssen. Dadurch, dass der Gesetzgeber
nach der deutschen Wiedervereinigung nicht eingegriffen habe, sei eine
offenkundige Ungerechtigkeit im Vergleich zu den Erben entstanden, die damals
ihre Grundstücke hätten zurückgeben müssen.
91. Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass die nationalen Behörden dank
der unmittelbaren Kenntnis ihrer Gesellschaft und von deren Bedürfnissen
grundsätzlich besser als der internationale Richter geeignet sind festzustellen, was
„öffentliches Interesse“ bedeutet. Im Rahmen des von der Konvention
geschaffenen Schutzmechanismus ist es folglich ihre Aufgabe, als erste über das
Vorhandensein eines Problems von allgemeinem Interesse, das
Eigentumsentziehungen rechtfertigt, zu entscheiden. Infolgedessen verfügen sie
hier wie in anderen Bereichen, auf die sich die Garantien der Konvention
erstrecken, über einen gewissen Ermessensspielraum.
Außerdem ist der Begriff von „allgemeinem Interesse“ von Natur aus weit gefasst.
Insbesondere schließt die Entscheidung, Gesetze über Eigentumsentziehungen zu
verabschieden, in der Regel die Untersuchung politischer, wirtschaftlicher und
sozialer Fragen ein. Da es der Gerichtshof für normal erachtet, dass der
Gesetzgeber über einen weiten Ermessensspielraum bei der Wirtschafts- und
Sozialpolitik verfügt, respektiert er die Art und Weise, in der dieser die zwingenden
Erfordernisse des „allgemeinen Interesses“ versteht, es sei denn, dessen
Beurteilung stellt sich als offensichtlich unangemessen heraus (vorerwähnte
Rechtssache
James u.a., S. 32, Nr. 46, vorerwähnte Rechtssache
Ehemaliger
König von Griechenland u. a.
, Nr. 87, und
Zvolský und Zvolská ./.Tschechische
Republik,
Nr. 46129/99, CEDH 2002-XI, Nr. 67 (am Ende)). Dies gilt zwangsläufig,
wenn nicht erst recht für so radikale Veränderungen wie diejenigen, die bei der
deutschen Wiedervereinigung erfolgten, wo ein Übergang zu einem
Marktwirtschaftsystem stattfand.
92. Der Gerichtshof pflichtet der Kammer auch in diesem Punkt bei (Nrn. 80-81)
und sieht keinen Anlass daran zu zweifeln, dass der Wunsch des Gesetzgebers, die
Eigentumsfragen im Zusammenhang mit der Bodenreform zu klären und die – in
seinen Augen ungerechten – Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren,
dem „öffentlichen Interesse“ diente.
3. Verhältnismäßigkeit des Eingriffs
a. Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
93. Der Gerichtshof erinnert daran, dass ein Eingriff in das Recht auf Achtung des
Eigentums einen „gerechten Ausgleich“ zwischen den Erfordernissen des
Allgemeininteresses der Gemeinschaft und den Anforderungen an den Schutz der
Grundrechte des Einzelnen herbeizuführen hat (s. u.a. vorerwähnte Rechtssache
Sporrong und Lönnroth
, S. 26, Nr. 69). Das Bestreben, einen solchen Ausgleich
sicherzustellen, spiegelt sich in der Struktur des gesamten Artikels 1 des Protokolls
Nr. 1 wider, folglich auch im zweiten Satz, der im Lichte des im ersten Satz
verankerten Grundsatzes zu sehen ist. Insbesondere müssen die eingesetzten
Mittel in einem angemessenen Verhältnis zu dem von jeder
vermögensentziehenden Maßnahme angestrebten Ziel stehen
(Pressos Compania
Naviera S.A. u.a. ./. Belgien
, Urteil vom 20. November 1995, Serie A, Band 332,
S. 23, Nr. 38).
Bei der Überprüfung, ob dieses Erfordernis beachtet wurde, gewährt der
Gerichtshof den Staaten einen großen Gestaltungsspielraum sowohl in Bezug auf
die Auswahl der Durchführungsmodalitäten als auch auf die Beurteilung, ob deren
Folgen im Allgemeininteresse durch das Bemühen, das Ziel der in Rede stehenden
Rechtsvorschriften zu erreichen, gerechtfertigt sind (
Chassagnou u.a. ./.
Frankreich
[GK], Nr. 25088/94, 28331/95 und 28443/95, CEDH 1999-III, Nr. 75).
Er kann deswegen nicht auf seine Kontrollbefugnis verzichten, die ihn verpflichtet
zu überprüfen, ob der gewollte Ausgleich so gewahrt worden ist, dass er mit dem
Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Eigentums im Sinne des Artikels 1
erster Satz des Protokolls Nr. 1 vereinbar ist (vorerwähnte Rechtssache
Zvolský
und Zvolská
, Nr. 69).
94. Zur Feststellung, ob die streitige Maßnahme den gewollten gerechten
Ausgleich wahrt und ob sie insbesondere den Beschwerdeführern nicht eine
unverhältnismäßige Last aufbürdet, sind die vom innerstaatlichen Recht
vorgesehenen Entschädigungsmodalitäten zu berücksichtigen. Hierzu hat der
Gerichtshof bereits ausgeführt, dass eine Eigentumsentziehung ohne Zahlung
eines dem Wert des Eigentums angemessenen Betrags normalerweise eine
übermäßige Verletzung darstellt, und dass das völlige Fehlen einer Entschädigung
nur unter außergewöhnlichen Umständen im Zusammenhang mit Artikel 1 des
Protokolls Nr. 1 gerechtfertigt sein kann (vorerwähnte Rechtssache
Die heiligen
Klöster
, S. 35, Nr. 71, vorerwähnte Rechtssache
Ehemaliger König von
Griechenland u.a.
, Nr. 89, und vorerwähnte Rechtssache Zvolský und Zvolská
, Nr.
70).
95. Im vorliegenden Fall sieht das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz vom
14. Juli 1992 für die Beschwerdeführer keine Entschädigungsmodalität vor. Da
bereits feststeht, dass der streitige Eingriff die Bedingung der Rechtmäßigkeit
erfüllte und nicht willkürlich war, wird der Zugriff des Staates auf das Eigentum
der Beschwerdeführer durch das Fehlen einer Entschädigung nicht
eo ipso
und
stets unrechtmäßig (siehe entsprechend vorerwähnte Rechtssache
Ehemaliger
König von Griechenland u.a.
, Nr. 90, und vorerwähnte Rechtssache
Zvolský und
Zvolská
, Nr. 71). Daher bleibt zu ermitteln, ob die Beschwerdeführer im Rahmen
einer rechtmäßigen Eigentumsentziehung eine unverhältnismäßige und
übermäßige Last zu tragen hatten.
b. Kammerurteil
96. In ihrem Urteil vom 22. Januar 2004 gelangte die Kammer zu folgender
Schlussfolgerung:
« 97. [eigtl. 91. – Anm.d.Übers.]. Zwar hat der deutsche Gesetzgeber im
vorliegenden Fall in der Folge die – in seinen Augen ungerechten – Auswirkungen
des Modrow-Gesetzes durch ein neues, zwei Jahre später angenommenes Gesetz
korrigieren wollen, doch warf dies an sich kein Problem auf: Was hingegen ein
Problem darstellte, war der Regelungsgehalt dieses neuen Gesetzes. Der
Gerichtshof ist im Hinblick auf die Wahrung der Verhältnismäßigkeit nämlich der
Auffassung, dass der deutsche Gesetzgeber eine solche Eigentumsentziehung zu
Gunsten des Staates nicht vornehmen durfte, ohne eine angemessene
Entschädigung für die Beschwerdeführer vorzusehen. Festzustellen ist jedoch, dass
sie im vorliegenden Fall nicht die geringste Entschädigung erhalten haben.
(...)
98. [eigtl. 93 – Anm.d.Übers.]. Angesichts all dieser Aspekte gelangt der
Gerichtshof zu dem Schluss, dass selbst wenn die Umstände der deutschen
Wiedervereinigung als außergewöhnlich anzusehen sind, das Fehlen einer jeglichen
Entschädigung für den Zugriff des Staates auf das Eigentum der Beschwerdeführer
zu deren Nachteil den zwischen dem Schutz des Eigentums und den Erfordernissen
des Allgemeininteresses herbeizuführenden gerechten Ausgleich stört.
Somit ist Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verletzt worden.“
c. Vorbringen der Parteien
97. Die Beschwerdeführer ersuchen den Gerichtshof, das Urteil der Kammer zu
bestätigen, und behaupten, dass die Eigentumsentziehung zu ihrem Nachteil
offensichtlich unverhältnismäßig gewesen sei, da sie entschädigungslos zugunsten
des Fiskus erfolgt sei, und dass sie jeglicher Rechtfertigung entbehre.
Bereits in der DDR seien sie unabhängig von der Eintragung in das Grundbuch als
Erben von Eigentümern von Bodenreformgrundstücken rechtmäßige Eigentümer
dieser Grundstücke gewesen. Zudem habe das Modrow-Gesetz objektiv keine
Lücken enthalten, da es vollwertiges Eigentum für alle Eigentümer von
Bodenreformgrundstücken, einschließlich deren Erben, habe wieder herstellen und
einen Schlussstrich unter die entgegenstehenden Bestimmungen der DDR habe
ziehen wollen. Die Beschwerdeführer legen zur Stützung ihrer Argumentation
Bescheinigungen ehemaliger DDR-Funktionäre, darunter der damalige
Ministerpräsident und Namensgeber des Gesetzes, Hans Modrow, vor. Schließlich
sei die Einführung eines Eigentumsrechts in der DDR wie es in den
Marktwirtschaftsordnungen bestanden habe, sogar eine der von der
Bundesrepublik Deutschland für die Verwirklichung der deutschen
Wiedervereinigung geforderten Bedingungen gewesen. Nach den ersten freien
Wahlen am 18. März 1990 habe das Parlament der DDR unter der Regierung von
de Maizière das Modrow-Gesetz gebilligt, was ebenso nach der deutschen
Wiedervereinigung unter der Regierung Kohl geschehen sei. Die DDR habe
ihrerseits stets auf der Notwendigkeit beharrt, die Rechte der Eigentümer an den
Bodenreformgrundstücken zu wahren.
Im Jahr 1992 habe der deutsche Gesetzgeber den Beschwerdeführern willkürlich
ihr Erbe entzogen, um Gleichheit im Unrecht herzustellen; er habe hierbei eine
Politik angewandt, die sich sogar außerhalb der damals von den DDR–Behörden
praktizierten Politik bewegt habe und eines Rechtsstaats unwürdig sei.
Die Beschwerdeführer sind daher der Meinung, dass sie einen beispiellosen Angriff
auf ihr Eigentum erfahren hätten, und behaupten, dass der Gerichtshof bis zum
heutigen Tag nie die Auffassung vertreten habe, dass die außergewöhnlichen
Umstände dergestalt gewesen seien, dass sie eine entschädigungslose Enteignung
hätten rechtfertigen können; sie berufen sich in diesem Zusammenhang auf die
Rechtssachen
Die Heiligen Klöster ./. Griechenland; Ehemaliger König von
Griechenland u.a. ./. Griechenland
(vorerwähnte Urteile) und
Broniowski ./. Polen
([GK], Nr. 31443/96, CEDH 2004-V).
98. Die Regierung hingegen stellt die Schlussfolgerung der Kammer in diesem
Punkt in Abrede und behauptet, dass unter den außergewöhnlichen Umständen
infolge eines Regimewechsels das Fehlen einer Entschädigung bei der globalen
Regelung der Eigentumsfragen gerechtfertigt sein kann; sie führt hierzu
insbesondere die Rechtssache
Zvolský und Zvolská ./. Tschechische Republik
(vorerwähntes Urteil) an.
Sie weist darauf hin, dass die Beschwerdeführer als Erben von Eigentümern von
Bodenreformgrundstücken in der DDR kein vollwertiges Eigentumsrecht, sondern
lediglich ein Nutzungsrecht erworben hätten. Nach den Besitzwechselverordnungen
hätten ihre Grundstücke entschädigungslos in den Bodenfonds zurückgeführt
werden müssen, wenn die Erben das Land nicht selbst bewirtschafteten. Die
Tatsache, dass die DDR-Behörden nach den in diesen Verordnungen aufgeführten
Grundsätzen häufig nicht für diese Rückführung Sorge getragen und die
Eintragungen in dem Grundbuch nicht geändert hätten, könne keinen Anspruch
der Beschwerdeführer begründen, ihre Grundstücke behalten zu dürfen. Selbst
wenn die Beschwerdeführer formale Eigentumspositionen erworben hätten, hätten
sie nicht auf den Fortbestand ihrer Rechtsposition vertrauen dürfen und in dieser
Hinsicht kein schutzwürdiges Vertrauen gehabt. Das Modrow-Gesetz habe
eigentlich darauf abgezielt, vorrangig die landwirtschaftliche Nutzung dieser
Grundstücke zu gewährleisten und den Bauern, und nicht den Erben, die das Land
nicht selbst bewirtschafteten, zu ermöglichen, vollwertige Eigentümer zu werden,
um ihre Eingliederung in die freie Marktwirtschaft zu gestatten.
Die Regierung nimmt auf die Rechtssache
James u.a. ./. Vereinigtes Königreich
(vorerwähntes Urteil, und Entscheidung der Kommission vom 11. Mai 1984, DR
98, S. 71) Bezug und weist darauf hin, dass der Gesetzgeber aus Gründen der
sozialen Gerechtigkeit verpflichtet gewesen sei, das Modrow-Gesetz, das unter den
besonderen Umständen der DDR von einer nicht demokratisch gewählten
Volksvertretung verabschiedet worden sei, zu korrigieren, ohne
Entschädigungsleistungen vorzusehen.
d. Beurteilung des Gerichtshofs
99. Um im Lichte der in den Nrn. 93-95 aufgeführten Grundsätze beurteilen zu
können, ob der „gerechte Ausgleich“ zwischen dem Schutz des Eigentumsrechts
und dem Allgemeininteresse gewahrt worden ist, erachtet es der Gerichtshof für
notwendig, einige Besonderheiten dieser Sache und vor allem den historischen
Kontext, in dem sie eingebettet ist, in Erinnerung zu rufen.
i. Die Art des Rechts, über das die „Neubauern“ und ihre Erben im Rahmen der
Bodenreform in der DDR verfügten
100. Das Ziel der ab 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland
durchgeführten Bodenreform, die nach 1949 in der DDR fortgesetzt wurde,
bestand nicht nur darin, Land an Bauern, die damals Neubauern genannt wurden,
zu verteilen, sondern auch darin, die landwirtschaftliche Nutzung der auf diese
Weise unter staatlicher Kontrolle zugeteilten Grundstücke sicherzustellen. Es trifft
zu, dass diese Grundstücke in den Zuteilungsurkunden als „vererbbares
Privateigentum“ (Nr. 55 oben) bezeichnet wurden und dass der Bundesgerichtshof
in seinem Grundsatzurteil vom 17. Dezember 1998 bestätigt hat, dass sie
vererblich waren (Nr. 71 oben).
101. Dennoch kann das Recht, über das die Neubauern in der DDR verfügten,
nicht als Eigentumsrecht eingestuft werden, wie dies damals in den
demokratischen Marktwirtschaftsordnungen existierte. Als Ausdruck des
Kollektiveigentumssystems, das die ehemaligen kommunistischen Länder
kennzeichnete, unterlagen die Bodenreformgrundstücke nach den
Bodenreformverordnungen von 1945 und den Besitzwechselverordnungen von
1951, 1975 und 1988 erheblichen Verfügungsbeschränkungen (Nrn. 55-59 oben).
102. Der ursprüngliche Zweck der Bodenreform, d.h. die landwirtschaftliche
Nutzung der fraglichen Grundstücke, erklärt auch, weshalb die Erben dieser
Grundstücke nur berechtigt waren, sie zu behalten, wenn sie selbst das Land
bewirtschafteten oder Mitglied einer Landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft
waren. Andernfalls wurden die Grundstücke entweder besser Berechtigten
übergeben oder mussten in den staatlichen Bodenfonds zurückgeführt werden
(Nrn. 57-59 oben).
103. Es scheint erwiesen zu sein, dass es, wenn die Grundstücke in der Praxis in
zahlreichen Fällen tatsächlich in den Bodenfonds zurückgeführt wurden (Nrn. 73-
74 oben), vorkam, dass es die DDR-Behörden häufig aus Desinteresse, da die
Grundstücke jedenfalls in der Regel von den Landwirtschaftlichen
Produktionsgemeinschaften verwaltet wurden, unterlassen haben, diese
Übertragungen vorzunehmen oder in das Grundbuch einzutragen.
104. Wenn die DDR-Behörden folglich die damals geltenden Vorschriften
konsequent angewandt hätten, hätten die Beschwerdeführer, die das Land nicht
selbst bewirtschafteten und nicht Mitglieder einer Landwirtschaftlichen
Produktionsgemeinschaft waren, die streitgegenständlichen Grundstücke nicht
behalten können.
ii. Die Art des Rechts, über das die Beschwerdeführer nach Inkrafttreten des
Gesetzes vom 6. März 1990 über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus
der Bodenreform verfügten
105. In der Umbruchsituation und im Verlauf der Verhandlungen zwischen den
beiden deutschen Staaten und den vier ehemaligen Besatzungsmächten, die nach
dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 aufgenommen wurden, hat das
Parlament der DDR am 6. März 1990 das am 16. März 1990 in Kraft getretene
Gesetz über die Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform, das Modrow-
Gesetz, zwei Tage vor den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 verabschiedet.
Durch dieses Gesetz sind alle Verfügungsbeschränkungen hinsichtlich der
Bodenreformgrundstücke aufgehoben worden; es bestimmte, dass das
Bodenreformeigentum, „auch in den so genannten Alterbfällen, in denen der im
Grundbuch eingetragene Eigentümer bereits vor dem 16. März 1990 verstorben
war, vollwertigem Eigentum entsprach und als solches in den Geltungsbereich des
Grundgesetzes gelangte“ (siehe Grundsatzentscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 6. Oktober 2000 – Nr. 42 oben).
106. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Modrow-Gesetz selbst (Nr. 61
oben) sehr knapp formuliert ist: Zwar bestimmt es, dass die
Verfügungsbeschränkungen aufgehoben werden und die
Besitzwechselverordnungen außer Kraft treten, doch enthält es keine speziellen
Angaben zur Situation der Erben dieser Grundstücke und sieht keine
Übergangsbestimmungen für die Anwendung dieses Gesetzes vor.
Da es einer einheitlichen Praxis in der DDR ermangelte, kann davon ausgegangen
werden, dass die Situation der Erben, die das Land nicht selbst bearbeiteten und
nicht Mitglied einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren, wie
dies bei den Beschwerdeführern der Fall war, folglich von Unsicherheit gezeichnet
war.
Angesichts dieser Aspekte scheint die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts
(siehe auch die Grundsatzentscheidung vom 6. Oktober 2000 – Nr. 42 oben), dass
eine „verdeckte Regelungslücke“ vorhanden sei, nicht ungerechtfertigt zu sein.
iii. Die Gründe des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes vom 14. Juli
1992
107. Am 14. Juli 1992, also weniger als zwei Jahre nach dem Inkrafttreten der
deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, wollte der deutsche
Gesetzgeber aus Gründen der Billigkeit und sozialen Gerechtigkeit die
Auswirkungen des Modrow-Gesetzes korrigieren.
108. Das Hauptziel des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes vom 14. Juli
1992 (Nrn. 65–69) bestand darin, in Anlehnung an die in der DDR in den
Bodenreformverordnungen und den Besitzwechselverordnungen aufgeführten
Grundsätze alle Erben von Bodenreformgrundstücken so zu stellen, wie sie
gestanden hätten, wenn diese Grundsätze damals wirklich angewandt worden
wären. Hierdurch sollte verhindert werden, dass die Erben, die die
Zuteilungsvoraussetzungen nicht erfüllten, einen ungerechtfertigten Vorteil
gegenüber denjenigen genießen würden, die damals ihre Grundstücke in den
Bodenfonds zurückführen mussten, da sie das Land nicht selbst bewirtschafteten
und nicht Mitglied einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren.
iv. Ergebnis
109. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er in der Vergangenheit bereits
veranlasst worden ist zu beurteilen, ob ein Eingreifen des Gesetzgebers, um einen
Wirtschaftssektor aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit zu reformieren
(vorerwähnte Rechtssache
James u.a.,
die unter dem Blickwinkel des Artikels 1
Abs. 1 zweiter Satz untersucht wurde und die Reform des britischen
Erbpachtsystems betraf) oder um die Mängel eines früheren Gesetzes im
öffentlichen Interesse zu beheben (
Urteil National & Provincial Building Society,
Leeds Permanent Building Society und Yorkshire Building Society ./. Vereinigtes
Königreich, Urteils- und Entscheidungssammlung
1997-VII, das unter dem
Blickwinkel des Artikels 1 Abs. 2 untersucht wurde und eine rückwirkende
Steuergesetzgebung betraf), den „gerechten Ausgleich“ zwischen den in Rede
stehenden Interessen im Hinblick auf Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 wahrte.
110. Der vorliegende Fall weist zwar einige Ähnlichkeiten mit diesen
letztgenannten Rechtssachen auf, insofern als der deutsche Gesetzgeber im Jahr
1992 versucht hat, die Mängel des Modrow-Gesetzes aus Gründen der sozialen
Gerechtigkeit rückwirkend zu korrigieren. Er unterscheidet sich jedoch von der
Rechtssachen
James u.a. ./. Vereinigtes Königreich
; da das Zweite
Vermögensrechtsänderungsgesetz nicht die geringste Entschädigung für die
Beschwerdeführer vorsah.
111. Wie der Gerichtshof weiter oben (Nr. 94) ausgeführt hat, kann das völlige
Fehlen einer Entschädigung nur unter außergewöhnlichen Umständen im
Zusammenhang mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 gerechtfertigt sein.
112. Er muss daher im Lichte des einmaligen Kontextes der deutschen
Wiedervereinigung prüfen, ob die Besonderheiten des vorliegenden Falles als
außergewöhnliche Umstände angesehen werden können, die das Fehlen einer
jeglicher Entschädigung rechtfertigen.
113. Diesbezüglich erinnert der Gerichtshof daran, dass der Staat bei der
Verabschiedung von Gesetzen im Zusammenhang mit einem Wechsel des
politischen und wirtschaftlichen Systems über einen großen Gestaltungsspielraum
verfügt (siehe insbesondere
Kopecký ./. Slowakei
[GK], Nr. 44912/98, CEDH
2004-IX, Nr. 35, und vorerwähnte Rechtssache
Zvolský und Zvolská
, Nrn. 67-68
und 72). Er hat dies auch im Hinblick auf die Verabschiedung von Gesetzen in dem
einmaligen Kontext der deutschen Wiedervereinigung wiederholt (siehe zuletzt
von
Maltzan u.a. ./. Deutschland
(Entsch.) [GK], Nr. 71916/01, 71917/01 und
10260/02, CEDH 2005, Nrn. 77 und 111-112).
114. In seinem Urteil vom 22. Januar 2004 hat die Kammer im Hinblick auf die
Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Auffassung vertreten, dass der
deutsche Gesetzgeber „eine solche Eigentumsentziehung zugunsten des Staates
nicht vornehmen durfte, ohne eine angemessene Entschädigung für die
Beschwerdeführer vorzusehen“ (Nr. 91). . Die Kammer gelangte zu dem Schluss,
dass „selbst wenn die Umstände der deutschen Wiedervereinigung als
außergewöhnlich anzusehen sind, das Fehlen einer jeglichen Entschädigung für
den Zugriff des Staates auf das Eigentum der Beschwerdeführer zu deren Nachteil
den zwischen dem Schutz des Eigentums und den Erfordernissen des
Allgemeininteresses herbeizuführenden gerechten Ausgleich stört“ (Nr. 93).
115. Der Gerichtshof teilt jedoch nicht die Meinung der Kammer in diesem Punkt.
116. Drei Aspekte sind seines Erachtens in dieser Hinsicht von entscheidender
Bedeutung:
i. Erstens die Umstände der Verabschiedung des Modrow-Gesetzes, das von einer
nicht demokratisch gewählten Volksvertretung in einer Übergangszeit zwischen
zwei Staatssystemen beschlossen wurde, die zwangsläufig von Umwälzungen und
Unsicherheiten geprägt war. Unter diesen Umständen durften die
Beschwerdeführer, selbst wenn sie eine formale Eigentumsposition erworben
hatten, nicht auf den Fortbestand ihrer Rechtsposition vertrauen, zumal in
Ermangelung eines jeglichen Hinweises in dem Modrow-Gesetz auf die Erben die
Situation derjenigen unter ihnen, die das Land nicht selbst bewirtschafteten und
nicht Mitglied einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren, selbst
nach Inkrafttreten dieses Gesetzes heikel blieb.
ii. Zweitens der recht kurze Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten der deutschen
Wiedervereinigung und der Verabschiedung des Zweiten
Vermögensrechtsänderungsgesetzes. In Anbetracht der unendlich großen Aufgabe,
die der deutsche Gesetzgeber zu bewältigen hatte, um insbesondere alle
komplexen Fragen des Eigentumsrechts, darunter die Fragen der Abwicklung der
Bodenreform, beim Übergang zu einem demokratischen Marktwirtschaftssystem zu
regeln, kann davon ausgegangen werden, dass der deutsche Gesetzgeber
innerhalb einer angemessenen Frist eingeschritten ist, um die – in seinen Augen
ungerechten – Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren. Ihm kann nicht
zum Vorwurf gemacht werden, sich nicht der gesamten Tragweite dieses Gesetzes
am Tag selbst des Inkrafttretens der deutschen Wiedervereinigung bewusst
gewesen zu sein.
iii. Drittens die Gründe des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes: In
dieser Hinsicht kann die Meinung des Parlaments der Bundesrepublik Deutschland
nicht als offensichtlich unangemessen bezeichnet werden, der zufolge es
verpflichtet war, die Auswirkungen des Modrow-Gesetzes aus Gründen der sozialen
Gerechtigkeit zu korrigieren, um den Erwerb vollwertigen Eigentums durch die
Erben der Bodenreformgrundstücke nicht von der damaligen zufallsbedingten
Tätigkeit oder Untätigkeit der DDR-Behörden abhängig zu machen (Nrn. 103-104
oben). Ebenso wenig scheint die Abwägung der in Rede stehenden Interessen
durch das Bundesverfassungsgericht, insbesondere in seiner
Grundsatzentscheidung vom 6. Oktober 2000, bei der Prüfung der
Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes willkürlich
zu sein (Nrn. 41-42 oben). Angesichts des „unverhofften Glücksfalls“, von dem
Beschwerdeführern zweifellos dank des Modrow-Gesetzes aufgrund der in der DDR
auf die Erben von Bodenreformgrundstücken anzuwendenden Vorschriften
profitierten, war die Tatsache, dass diese Korrektur entschädigungslos erfolgte,
nicht unverhältnismäßig (siehe entsprechend die vorerwähnte Rechtssache
National & Provincial Building Society
, Nrn. 80-83). Hierbei ist auch festzustellen,
dass das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz nicht ausschließlich dem Staat
zugute kam, sondern auch in bestimmten Fällen die Neuzuteilung der Grundstücke
an Bauern vorsah (Nrn. 67-69 oben).
117. Angesichts all dieser Aspekte und insbesondere unter Berücksichtigung der
unsicheren Rechtslage der Erben und der von den deutschen Behörden geltend
gemachten Gründe der sozialen Gerechtigkeit, gelangt der Gerichtshof zu dem
Schluss, dass in dem einmaligen Kontext der deutschen Wiedervereinigung das
Fehlen einer jeglichen Entschädigung den zwischen dem Schutz des Eigentums und
den Erfordernissen des Allgemeininteresses herbeizuführenden „gerechten
Ausgleich“ nicht stört.
Somit ist Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht verletzt worden.
II. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 14 DER KONVENTION IN
VERBINDUNG MIT ARTIKEL 1 DES PROTOKOLLS NR. 1
118. Die Beschwerdeführer behaupten, Opfer einer Diskriminierung geworden zu
sein, die gegen Artikel 14 der Konvention in Verbindung mit Artikel 1 des
Protokolls Nr. 1 verstoße. Artikel 14 lautet wie folgt:
„Der Genuss der in d(...)er Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne
Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe,
der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der
nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen
Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu
gewährleisten.“
119. Die Beschwerdeführer vertreten die Auffassung, gegenüber drei Kategorien
von Personen diskriminiert worden zu sein: Zunächst im Vergleich zu den
Eigentümern von Bodenreformgrundstücken, die ihr Eigentum als Neubauern
erworben hatten und am 15. März 1990 noch lebten; im Vergleich zu den
Eigentümern dieser Grundstücke, die ihr Eigentum durch lebzeitigen
Eigentumserwerb vor dem 15. März 1990 erworben hatten; im Vergleich zu den
Personen, die diese Grundstücke zwischen dem 16. März 1990 und dem 2. Oktober
1990 geerbt hatten.
Eine solch unterschiedliche Behandlung sei nicht gerechtfertigt gewesen; das
gesamte „Rechtsgebäude“ von 1992 beruhe auf einer völligen Verkennung der
Verhältnisse in der DDR und insbesondere der Tatsache, dass die
Bodenreformgrundstücke vererbbar gewesen seien.
Außerdem sei den Beschwerdeführern heute nicht mehr die Möglichkeit gegeben,
Mitglied einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft zu werden –
Stichtag war der 15. März 1990 – , wie dies vom deutschen Gesetzgeber
gleichwohl rückwirkend zum 22. Juli 1992 verlangt worden sei.
120. Die Regierung behauptet, dass die Beschwerdeführer in Anbetracht des
Zwecks des Gesetzes von 1992 keine Diskriminierung im Vergleich zu den drei
anderen Personengruppen, auf die sie Bezug nehmen, erfahren hätten.
Erstens seien die Beschwerdeführer gegenüber den Personen, die diese
Grundstücke nach Ablauf des 15. März 1990 im Wege der Erbfolge erworben
hätten, nicht diskriminiert worden, da die Korrektur des Modrow-Gesetzes nur
geboten gewesen sei, wenn die DDR-Behörden versäumt hatten, die Grundstücke
nach Maßgabe der Grundsätze der Bodenreform- und Besitzwechselverordnungen
in den Bodenfonds zurückzuführen oder die Eintragungen im Grundbuch zu
ändern, was bis zum 15. März 1990 der Fall gewesen sei. Zweitens hätten die
Beschwerdeführer auch keine Diskriminierung im Vergleich zu den Neubauern im
Ruhestand erfahren, die, selbst wenn sie nicht mehr aktive Mitglieder einer
Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren, formal Mitglieder
geblieben seien, häufig in den auf Bodenreformgrundstücken befindlichen
Gebäuden gewohnt und daher die berechtigte Erwartung gehabt hätten, dass ihre
Rechte geschützt seien. Die Beschwerdeführer seien schließlich nicht gegenüber
den Personen diskriminiert worden, die diese Grundstücke durch lebzeitigen
Eigentumserwerb erworben hätten, da andere Vorschriften anzuwenden gewesen
seien.
121. Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass Artikel 14 ebenfalls
Anwendung findet, da die Sache in den Geltungsbereich des Artikels 1 des
Protokolls Nr. 1 fällt.
122. Sodann weist er darauf hin, dass eine unterschiedliche Behandlung im Sinne
des Artikels 14 diskriminierend ist, wenn es keine „sachliche und angemessene
Rechtfertigung“ dafür gibt, d.h. wenn sie kein „legitimes Ziel“ verfolgt, oder wenn
„die eingesetzten Mittel“ in keinem „angemessenen Verhältnis zu dem
angestrebten Ziel stehen“. Die Vertragsstaaten verfügen außerdem über einen
gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung, ob und inwieweit Unterschiede
in einer im Übrigen gleichen Situation eine Ungleichbehandlung rechtfertigen
(siehe insbesondere vorerwähnte Rechtssache
James u.a., Nr. 75, und
Kuna ./.
Deutschland
(Entsch.), Nr. 52449/99, CEDH 2001-V).
123. Der Gerichtshof stellt fest, dass im vorliegenden Fall das Ziel des Zweiten
Vermögensrechtsänderungsgesetzes vom 14. Juli 1992 darin bestand, die
Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren, um eine Gleichbehandlung
zwischen den Erben von Bodenreformgrundstücken, deren Grundstücke in der DDR
vor Inkrafttreten des Modrow-Gesetzes am 16. März 1990 Dritten zugeteilt oder in
den Bodenfonds zurückgeführt wurden, und den Erben sicherzustellen, die nicht
die zuteilungsfähig waren, aber in deren Fall die DDR-Behörden damals versäumt
hatten, diese Übertragungen vorzunehmen oder sie ins Grundbuch einzutragen.
124. Folglich ist die unterschiedliche Behandlung der Beschwerdeführer und der
Personen, die ihr Land nach dem Stichtag, nämlich dem 15. März 1990, geerbt
hatten, eindeutig gerechtfertigt.
Die unterschiedliche Behandlung der Beschwerdeführer und der Neubauern im
Ruhestand, die an diesem Datum noch lebten, erklärt sich durch die Tatsache,
dass diese formal Mitglieder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften
geblieben sind.
Schließlich ist die unterschiedliche Behandlung der Beschwerdeführer und der
Personen, die ihre Grundstücke im Wege des lebzeitigen Eigentumserwerbs vor
diesem Stichtag erworben hatten, ebenfalls gerechtfertigt, da damals in der DDR
der Erwerb oder lebzeitige Eigentumserwerb von Bodenreformgrundstücken
anderen Vorschriften unterlag als denjenigen, die auf Erbschaften anwendbar
waren.
125. Angesichts des aus Gründen des öffentlichen Interesses verfolgten legitimen
Ziels und des Gestaltungsspielraums, über den der Staat in dem einmaligen
Kontext der deutschen Wiedervereinigung verfügte, kann die Korrektur der
Auswirkungen des Modrow-Gesetzes durch den Gesetzgeber im Jahr 1992 weder
als unangemessen noch so angesehen werden, als habe sie eine immense
Belastung für die Beschwerdeführer herbeigeführt (siehe die Argumentation des
Gerichtshofs zu Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 – Nrn. 112-117 oben). Die
Bestimmungen des Gesetzes von 1992 sind demnach so anzusehen, als beruhten
sie auf einer sachlichen und angemessenen Rechtsfertigung.
126. Es lag daher keine Verletzung der Erfordernisse des Artikels 14 der
Konvention in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 vor.
AUS DIESEN GRÜNDEN
ENTSCHEIDET
DER GERICHTSHOF
1. mit elf zu sechs Stimmen, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht verletzt
worden ist;
2. mit fünfzehn zu zwei Stimmen, dass Artikel 14 der Konvention in Verbindung
mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht verletzt worden ist.
Ausgefertigt in französischer und englischer Sprache und anschließend am 30. Juni
2005 in öffentlicher mündlicher Verhandlung verkündet im Menschenrechtspalast
in Straßburg.
Erik Fribergh Luzius Wildhaber
Stellvertretender Kanzler Präsident
Diesem Urteil sind gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2
der Verfahrensordnung die folgenden gesonderten Meinungen beigefügt.
– teilweise abweichende Meinung von Herrn Cabral Barreto ;
– teilweise abweichende Meinung von Herrn Pavlovschi ;
– teilweise abweichende Meinung von Herrn Costa und Herrn Borrego Borrego,
der sich Herr Ress und Frau Botoucharova anschließen ;
– abweichende Meinung von Herrn Ress.
L.W.
E.F.
TEILWEISE ABWEICHENDE MEINUNG DES RICHTERS CABRAL BARRETO
Ich bin mit der Mehrheit einer Meinung, dass Artikel 14 der Konvention in
Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht verletzt worden ist, jedoch kann
ich zu meinem großen Bedauern nicht ihre Meinung teilen, dass Artikel 1 des
Protokolls Nr. 1 nicht verletzt worden ist.
Hierzu ist Folgendes anzumerken:
I
Ich habe dem Kammerurteil eine teilweise übereinstimmende und teilweise
abweichende Meinung beigefügt, die ich in Erinnerung rufen möchte:
« 1. Ich bin der Meinung, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verletzt worden ist,
selbst wenn ich Schwierigkeiten habe, der Argumentation des Urteils insgesamt zu
folgen.
1.1 – Bei den fraglichen Grundstücken handelt es sich um im Jahr 1945 im
Rahmen der Bodenreform enteignete Grundstücke.
Ein im Rahmen der Bodenreform erworbenes Grundstück durfte weder geteilt noch
verkauft, verpachtet oder verpfändet werden.
Außerdem musste im Erbfall der Rat des Kreises die Rechte und Pflichten zur
Bewirtschaftung des Grundstücks auf denjenigen übertragen, der das Grundstück
als Mitglied einer landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft oder als Arbeiter
landwirtschaftlich nutzen sollte; waren die Bedingungen für eine Übertragung nicht
erfüllt, wurde das Grundstück in den staatlichen Bodenfonds zurückgeführt.
Die Erben von Eigentümern von Bodenreformgrundstücken, die das Grundstück
nicht landwirtschaftlich nutzten, konnten sich vor dem Gesetz vom 6. März 1990
nicht als Eigentümer in das Grundbuch eintragen lassen.
Durch das Gesetz vom 6. März 1990 sind alle Verfügungsbeschränkungen
hinsichtlich der Bodenreformgrundstücke entfallen, wodurch ihre Eigentümer zu
vollwertigen Eigentümern wurden.
Dieses Gesetz nutzte den Beschwerdeführern jedoch nichts, aus dem einfachen
Grund, weil sie im Zeitpunkt seines Inkrafttretens – 16. März 1990 – keine
Eigentümer der fraglichen Grundstücke waren.
1.2 – Nach dem Gesetz vom 6. März 1990 ist es den Beschwerdeführern gelungen,
ihren Namen als Eigentümer in das Grundbuch eintragen zu lassen.
Die Eintragung war dank von Umständen möglich, die nicht in den rechtlichen
Bereich fallen, sondern vielmehr auf Zufall oder Nachlässigkeit zurückzuführen
waren, wie der Bundesgerichtshof festgestellt hat.
Ich füge hinzu, dass die Beschwerdeführer auch von der schwierigen und
verworrenen Situation nach der deutschen Wiedervereinigung sowie von einer
gewissen Flexibilität bei der Auslegung des Gesetzes vom 6. März 1990 profitiert
haben, wobei der Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1992
diese Auslegung ordnungsgemäß korrigiert hat.
Wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, hat dieses neue Gesetz die
Beschwerdeführer so gestellt, wie sie gestanden hätten, wenn das in dem
Zeitpunkt, als das Gesetz vom 6. März 1990 in Kraft getreten ist, geltende Recht
beachtet worden wäre.
Die Beschwerdeführer haben jedoch trotz fehlender Rechtfertigung und trotz
fehlenden Rechtstitels ihre Namen als Eigentümer in das Grundbuch eintragen
lassen.
Auf diese Weise sind sie von den deutschen Behörden anerkannt worden und
haben die Möglichkeit gehabt, über das Eigentum zu verfügen.
Ich finde, dass das Gesetz von 1992 in Bezug auf die streitbefangenen
Grundstücke einen Eingriff in die Situation der Beschwerdeführer darstellt,
wodurch eine Beeinträchtigung der berechtigten Hoffnung, weiterhin als
Eigentümer angesehen zu werden, zum Ausdruck kommt; folglich ist Artikel 1 des
Protokolls Nr. 1 verletzt worden.
Ich kann jedoch nicht der Formulierung in Nr. 86 des Urteils beipflichten –
„unabhängig von der Art der damaligen Einschränkungen des Eigentumsrechts der
Beschwerdeführer, diese Beschränkungen eindeutig durch das Modrow-Gesetz
entfallen sind“ – denn, wie ich versucht habe, weiter oben darzulegen, das
Modrow-Gesetz konnte den Beschwerdeführern nicht von Nutzen sein, weil sie im
Zeitpunkt seines Inkrafttretens keine Eigentümer oder Besitzer der Grundstücke
waren.
Es fällt mir auch schwer, das zu akzeptieren, was in Nr. 90 ausgeführt ist –
„besteht, ..., kein Zweifel daran, dass sie vollwertiges Eigentum an ihren
Grundstücken mit Inkrafttreten dieses [Modrow-] Gesetzes rechtmäßig erlangt
haben“ –, da meines Erachtens das Modrow-Gesetz niemanden Eigentum
übertragen hat, sondern sich darauf beschränkte, die Beschränkungen der freien
Verfügung über die Grundstücke für diejenigen aufzuheben, die Besitzer waren,
was nicht auf die Beschwerdeführer zutraf.
Ich teile die Vorstellung der innerstaatlichen Gerichte (Bundesgerichtshof und
Bundesverfassungsgericht), insofern als der Gesetzgeber von 1992 die
Beschwerdeführer so gestellt hat, wie sie gestanden hätten, wenn die bestehenden
Vorschriften damals richtig angewandt worden wären, wodurch die
Beschwerdeführer an einer grundlosen Bereicherung gehindert wurden.
1.4 – Daher stelle ich mit diesen Klarstellungen und Einschränkungen die
Verletzung von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 fest.
2. Die Einschränkungen, mit denen ich die Verletzung von Artikel 1 des Protokolls
Nr. 1 feststelle, veranlassen mich, auch im Hinblick auf bestimmte Ausführungen
in Nr. 91 – „Der Gerichtshof ist (...) der Auffassung, dass der deutsche
Gesetzgeber eine solche Eigentumsentziehung zu Gunsten des Staates nicht
vornehmen durfte, ohne eine angemessene Entschädigung für die
Beschwerdeführer vorzusehen.“ – und in Nr. 93 – „das Fehlen einer jeglichen
Entschädigung für den Zugriff des Staates auf das Eigentum der Beschwerdeführer
zu deren Nachteil den zwischen dem Schutz des Eigentums und den Erfordernissen
des Allgemeininteresses herbeizuführenden gerechten Ausgleich stört.“ Vorbehalte
zu haben.
Der Gesetzgeber von 1992 hat eine Sachlage bereinigt, die einer Rechtsgrundlage
entbehrte; unter diesen Umständen frage ich mich, ob es angemessen ist, von
einem Zugriff und dem Erfordernis einer angemessenen Entschädigung zu
sprechen.
Daher kann ich sagen, – und genau hierin stimme ich nicht überein – dass die
Beschwerdeführer, nachdem sie ihre Namen in das Grundbuch haben eintragen
lassen und bis zum Zeitpunkt der Auflassung an den Fiskus, Nutzen aus den
fraglichen Grundstücken gezogen haben.
Aufgrund des Gesetzes von 1992 konnte von den Beschwerdeführern nicht nur die
Auflassung der Grundstücke, sondern auch die Rückführung des Gewinns verlangt
werden.
Und wenn dies zuträfe, würde ich zustimmen, dass das Ende der Hoffnung der
Beschwerdeführer, weiterhin als Eigentümer angesehen zu werden, es
rechtfertigte, dass die gerechte Entschädigung in einem Geldbetrag zum Ausdruck
kommt.
Im vorliegenden Fall, und über die Erstattung der Kosten und Auslange hinaus,
bedeutet meines Erachtens im Hinblick auf die Erfordernisse des Artikels 41 der
Konvention die Feststellung der Verletzung an sich eine gerechte Entschädigung.“
II
Beim erneuten Lesen dieser Meinung wird mir bewusst, dass das Urteil des
Gerichtshofs sich mit den Bedenken befasst, die ich bereits angesprochen habe;
daher kann ich den Ausführungen zur Art des Rechts, über das die
Beschwerdeführer nach dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 6. März 1990
verfügten, ohne zu Zögern beipflichten.
Ich verkenne auch nicht die nach der deutschen Wiedervereinigung erlebte
Situation, jedoch waren die Beschwerdeführer trotz allem Eigentümer und es
wurde ihnen ihr Eigentum entzogen.
Es stellt sich die Frage, ob der Eingriff durch das völlige Fehlen einer
Entschädigung möglicherweise unverhältnismäßig wird.
Die Mehrheit behauptet, dass das Fehlen einer jeglichen Entschädigung in dem
einmaligen Kontext der deutschen Wiedervereinigung den „zwischen dem Schutz
des Eigentums und den Erfordernissen des Allgemeininteresses herbeizuführenden
gerechten Ausgleich“ nicht stört.
In der Rechtsprechung des Gerichtshofs heißt es jedoch schon immer, dass Artikel
1 des Protokolls Nr. 1 verletzt ist, wenn ein entschädigungsloser Eigentumsentzug
erfolgt, es sei denn es liegen „außergewöhnliche Umstände“ vor.
Ich halte es für sehr schwierig, allgemein über die Art der „außergewöhnlichen
Umstände“ zu spekulieren, die ein völliges Fehlen einer Entschädigung
rechtfertigen können.
In einer Situation, die meines Erachtens sehr ähnlich ist, weil die Geschehnisse
unter außergewöhnlichen Umständen und vor dem einmaligen Hintergrund eines
brutalen Wechsels des politischen Regimes – Übergang von einem monarchischen
zu einem republikanischen System – stattfanden, hat der Gerichthof in dem
vorerwähnten Urteil
Ehemaliger König von Griechenland u.a.
festgestellt, dass das
Fehlen einer jeglichen Entschädigung für den Zugriff auf das Eigentum der
Beschwerdeführer zu deren Nachteil den zwischen dem Schutz des Eigentums und
den Erfordernissen des Allgemeininteresses herbeizuführenden gerechten
Ausgleich gestört habe (Nr. 99).
Ich kann diese Argumentation nur umsetzen und wie in diesem Urteil zu dem
Schluss gelangen, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 folglich verletzt worden ist.
Es sollte nicht vergessen werden, dass das Gesetz von 1992 von der
demokratische gewählten deutschen Volksvertretung bereits in der Zeit nach der
Wiedervereinigung und infolgedessen in einem einmaligen Kontext verabschiedet
wurde, der jedoch weit davon entfernt ist, so schwerwiegende außergewöhnliche
Umstände darzustellen, wie sie sich durch eine Umwälzung des politischen
Regimes ergeben, die der Gerichtshof in dem Urteil
Ehemaliger König von
Griechenland u.a.
untersucht hat.
III
Ich bin aber auch für die von der Mehrheit in Nr. 116 vorgetragenen Argumenten
zugänglich.
Zwar wage ich es nicht zu behaupten, dass keine Verletzung vorliegt, doch bin ich
aus den bereits in meiner dem Kammerurteil beigefügten und weiter oben
wiedergegebenen Meinung der Auffassung, dass die Feststellung einer Verletzung
ausreichte, um den Erfordernissen des Artikels 41 der Konvention gerecht zu
werden.
TEILWEISE ABWEICHENDE MEINUNG DES RICHTERS PAVLOVSCHI
(Übersetzung)
Zu meinem großen Bedauern, sehe ich mich nicht in der Lage, der Meinung der
Mehrheit beizupflichten, der zufolge im vorliegenden Fall die durch Artikel 1 des
Protokolls Nr. 1 geschützten Rechte der Beschwerdeführer nicht verletzt worden
sind.
Meines Erachtens folgt aus den uns zur Verfügung stehenden Anhaltspunkten ganz
klar, dass diese Bestimmung verletzt worden ist.
Ich finde es schwierig, die sowohl von der deutschen Regierung als auch der
Mehrheit zur Stützung dieser These angeführten Argumente zu akzeptieren, die
besagt, dass im vorliegenden Fall keine Verletzung des Eigentumsrechts vorliegt.
„Aus Gründen des öffentlichen Interesses“
Die Regierung und die Mehrheit erkennen an, dass die Beschwerdeführer vor ihrer
Enteignung Eigentümer der fraglichen Vermögensgegenstände waren (Nrn. 79 und
80).
In ihrem Schriftsatz führt die Regierung aus, dass die durch die deutschen
Gerichte in den Fällen der Beschwerdeführer ergangenen Entscheidungen klar zum
Ausdruck bringen, dass diese Eigentum erworben hatten. Die Kammer kam zu
dem Schluss, dass ein Eigentumsentzug im Sinne des Artikels 1 zweiter Satz des
Protokolls Nr. 1 vorlag. Die Bundesregierung stellt die diesbezügliche Ansicht der
Kammer nicht in Abrede (Nrn. 20 und 21 des Schriftsatzes der Regierung).
Die deutsche Wiedervereinigung ist am 3. Oktober 1990 in Kraft getreten (Nr. 19
des Urteils), so dass alle von den bundesdeutschen Behörden im Hoheitsgebiet der
ehemaligen DDR vorgenommenen Rechtsakte diesen Behörden zuzurechnen sind.
Die beiden ersten Beschwerdeführer hatten 1976 ein Grundstück im Land
Sachsen-Anhalt, das sich damals in der DDR befand, geerbt und waren am 14. Juli
1992 von den Behörden der Bundesrepublik Deutschland, d.h. nach der
Wiedervereinigung, als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen worden (Nr. 25).
Erst 1994 wurde das Vorkaufsrecht des Fiskus in das Grundbuch eingetragen.
Daher wurden die Beschwerdeführer etwa zehn Jahre lang als rechtmäßige
Eigentümer des in Rede stehenden Grundstücks angesehen. Hiervon hat der
belangte Staat selbst sie
zwei Jahre
lang als solche anerkannt.
Die dritte und vierte Beschwerdeführerin hatten 1978 im Land Mecklenburg-
Vorpommern belegene Grundstücke geerbt und waren seit 1996, d.h. fünf Jahre
nach der Wiedervereinigung, als Eigentümer im Grundbuch eingetragen (Nr. 34).
Sie waren folglich zwanzig Jahre lang, also bis zu dem Urteil des Landgerichts
Neubrandenburg, das die Auflassung ihrer Grundstücke an das Land Mecklenburg-
Vorpommern anordnete, rechtmäßige Eigentümer der Grundstücke. Hiervon waren
sie
vier Jahre
lang wie die beiden ersten Beschwerdeführer als rechtmäßige
Eigentümer von den Behörden der Bundesrepublik Deutschland anerkannt worden,
die sie, um dies zu bestätigen, als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen
hatten.
Die fünfte Beschwerdeführerin hatte 1986 ein im Land Brandenburg belegenes
Grundstück geerbt und war am 30. November 1991 von den Behörden der
Bundesrepublik Deutschland als Eigentümerin dieses Grundstücks in das
Grundbuch eingetragen worden (Nrn. 43 und 46). Mit dieser Eintragung haben die
Behörden des belangten Staates anerkannt, dass die Beschwerdeführerin das
Eigentum an dem Grundstück rechtmäßig erworben hatte. Die Betroffene ist bis
zum 16. Juli 1997 Eigentümerin geblieben, d.h. bis zu dem Zeitpunkt, in dem das
Landgericht Frankfurt an der Oder sie verurteilt hat, ihr Eigentum anscheinend an
das Land Brandenburg aufzulassen. Es liegt meines Erachtens auf der Hand, dass
die Beschwerdeführerin elf Jahre lang als rechtmäßige Eigentümerin anerkannt
gewesen ist und dass hiervon etwa
sechs Jahre
lang die Behörden der
Bundesrepublik Deutschland selbst sie als solche anerkannt hatten.
Ich stimme der Schlussfolgerung der Kammer voll und ganz zu, die besagt, dass
alle Beschwerdeführer nach der Wiedervereinigung als Eigentümer in das
Grundbuch eingetragen worden waren und zunächst frei über ihr Eigentum
verfügen konnten (Kammerurteil vom 22. Januar 2004, Nr. 68).
Die Beschwerdeführer waren also während eines Zeitraums zwischen elf und
zwanzig Jahren als rechtmäßige Eigentümer anerkannt. Berücksichtigt man die
nach der Wiedervereinigung verstrichene Zeit, sind sie als solche während eines
Zeitraums von zwei bis sechs Jahren anerkannt gewesen – und dies sogar von den
Behörden des wiedervereinigten Deutschlands – , bevor ihnen ihr Eigentum
entzogen wurde.
Etwa 50.000 Menschen befinden sich praktisch in der gleichen Lage wie die
Beschwerdeführer (Kammerurteil, Nr. 85). Ich erkenne wirklich nicht, welches
„öffentliche Interesse“ daran bestehen könnte, einer so großen Anzahl von
deutschen Bürgern ihr Eigentum zu entziehen.
Zur Rechtfertigung der Eigentumsentziehung, von der die Beschwerdeführer
betroffen waren, hat die Regierung vor der Kammer das folgende Argument
angeführt:
„(...)Der deutsche Gesetzgeber ist verpflichtet gewesen, das Unrecht des Modrow-
Gesetzes zu korrigieren, das nicht der Tatsache Rechnung getragen hat, dass die
DDR-Behörden häufig ihre eigenen Regelungen nicht korrekt angewandt hatten.
Dies hatte zur Folge gehabt, dass zahlreiche Bauern, die die Grundstücke
tatsächlich bewirtschafteten, nicht als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen
waren, und dass hingegen zahlreiche Erben, die das Land nicht selbst bestellten,
darin eingetragen waren.“ (Kammerurteil, Nr. 78).
In ihrer Argumentation vor der Großen Kammer hat die Regierung folgendes
hinzugefügt:
„Dadurch, dass der Gesetzgeber nach der deutschen Wiedervereinigung nicht
eingegriffen hat, ist eine offenkundige Ungerechtigkeit im Vergleich zu den Erben
entstanden, die damals ihre Grundstücke hatten zurückgeben müssen.“ (Nr. 90).
Es bereitet mir gewisse Schwierigkeiten, dieser Argumentation zu folgen, die
zugetroffen hätte, wenn die bundesdeutschen Behörden das Eigentum der
Beschwerdeführer nicht anerkannt hätten; sie haben dies jedoch getan. Während
der Zeiträume von zwei bis zu sechs Jahren kamen die Beschwerdeführer ohne
jegliche Einschränkung in den Genuss der gleichen Eigentumsrechte wie jeder
andere deutsche Bürger.
Die Regierung hat die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten nicht aufgezeigt. Sie hat
beispielsweise nicht nachgewiesen, dass sie die Grundstücke wirklich für
landwirtschaftliche Zwecke benötigte oder dass die enteigneten Grundstücke
anderen Personen zugeteilt wurden, die sie tatsächlich bewirtschafteten, oder dass
die Behörden der Bundesrepublik Deutschland nach der Gesetzesänderung
„Bauern, die die Grundstücke tatsächlich bewirtschafteten, [die aber] nicht als
Eigentümer in das Grundbuch eingetragen waren“, wirklich Eigentumsrechte
einräumten oder aber dass diese Grundstücke den ursprünglichen Eigentümern
zurückgegeben wurden, die ihr Eigentum unter dem kommunistischen Regime
verloren hatten. Ich bin auch nicht bereit zu akzeptieren, dass die Situation der
„Erben, die damals ihre Grundstücke zurückgeben mussten“, möglicherweise als
Rechtsgrundlage dafür dient, um die Personen zu enteignen, deren
Eigentumsrechte von dem belangten Staat rechtmäßig anerkannt worden waren.
Kurz und gut, ich finde, dass die Regierung etwas entlegene Argumente vorträgt,
um den Eindruck zu erwecken, als gebe es eine gewisse Rechtfertigung für die
Tatsache, dass zahlreichen deutschen Bürgern in großem Umfang ihre
Eigentumsrechte entzogen werden, was meines Erachtens
per definitionem
nicht
im „öffentlichen Interesse“ liegen kann. Kein öffentliches Interesse kann es
nämlich rechtfertigen, dass Personen, die sehr viele Jahre lang Anspruch auf
Achtung ihres Eigentums hatten, ihre Eigentumsrechte entzogen werden, die zuvor
von dem Enteignenden selbst rechtmäßig anerkannt worden waren.
Zur „Verhältnismäßigkeit des Eingriffs“
Ich pflichte voll und ganz der Schlussfolgerung der Kammer bei, der zufolge ein
Eingriff in das Recht auf Achtung des Eigentums einen gerechten Ausgleich
zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses der Gemeinschaft und den
Anforderungen an den Schutz der Grundrechte des Einzelnen herbeizuführen hat.
Zur Feststellung, ob die streitige Maßnahme den gewollten gerechten Ausgleich
gewahrt und ob sie insbesondere den Beschwerdeführern nicht eine
unverhältnismäßige Last aufgebürdet hat, sind die vom maßgeblichen Recht
vorgesehenen Entschädigungsmodalitäten zu berücksichtigen. Um den Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit einzuhalten, konnte der deutsche Gesetzgeber den
Beschwerdeführern ihr Eigentum nicht zugunsten des Staates entziehen, ohne eine
angemessene Entschädigung für sie vorzusehen. Im vorliegenden Fall jedoch
haben die Beschwerdeführer nicht die geringste Entschädigung erhalten
(Kammerurteil, Nrn. 82-93).
Gleichzeitig, und dies sage ich mit dem höchsten Respekt für meine
Richterkollegen, fällt es mir schwer, der Schlussfolgerung der Mehrheit
beizupflichten, die feststellt, dass im vorliegenden Fall „in dem einmaligen Kontext
der deutschen Wiedervereinigung das Fehlen einer jeglichen Entschädigung den
zwischen dem Schutz des Eigentums und den Erfordernissen des
Allgemeininteresses herbeizuführenden „gerechten Ausgleich“ nicht stört“
(Nr. 117).
Meines Erachtens setzt der Begriff „Ausgleich“ voraus, dass die besonderen
Interessen der beiden hier betroffenen Parteien zu berücksichtigen sind – im
vorliegenden Fall einerseits die Interessen des deutschen Staates und andererseits
die der rechtmäßigen Eigentümer.
In der Tat sind die Interessen des deutschen Staates durch die Übertragung des
Eigentums der fraglichen Grundstücke an den Staat vollends beachtet worden.
Aber auf welche Weise wurde den Interessen der Eigentümer Rechnung getragen?
Die Antwort ist klar: sie wurden nicht berücksichtigt. Wenn eine der Parteien alles
und die andere nichts erhält , worin liegt dann der Ausgleich? Was bedeutet in der
Sache, die uns hier beschäftigt „gerecht“ im Zusammenhang mit dem „Ausgleich“?
Auch hier ist die Antwort auf diese Frage meines Erachtens sehr klar: Im
vorliegenden Fall ist kein „gerechter Ausgleich“ herbeigeführt worden. Ich würde
die Methode, die auf die Personen, denen ihr Eigentum entzogen wurde,
angewandt worden ist, eher als „ungerechtes Ungleichgewicht“ einstufen.
Ich kann das Argument nicht akzeptieren, dass das Modrow-Gesetz „von einer
nicht demokratisch gewählten Volksvertretung“ beschlossen wurde (Nrn. 98 und
116).
Jedermann wird einräumen, dass keine der Volkvertretungen der DDR zwischen
1945 und 1990 demokratisch gewählt worden war. Bedeutet dies, dass alle von
dieser Volkvertretung in sechsundvierzig Jahren verabschiedeten Gesetze,
einschließlich der Gesetze über andere Eigentumsfragen, in Frage gestellt oder
geändert werden müssten? Dies würde meines Erachtens zu weit führen und ein
tiefes Chaos bewirken.
Es ist nicht gerechtfertigt, die deutsche Wiedervereinigung als eine Art
außergewöhnlichen Umstand zu behandeln, der in den Augen der Mehrheit die
deutschen Behörden von der Verpflichtung entbunden hat, auf eine bestimmte Art
und Weise den sich aus der Enteignung resultierenden Nachteil wieder
gutzumachen. Ich wäre auf jeden Fall bereit gewesen, dieses Argument zu
akzeptieren, wenn der Nachteil durch höhere Gewalt, d.h. durch vom Willen der
Regierung unabhängige Ereignisse, die die Regierung weder hätte vorhersehen
noch verhüten können, verursacht worden wäre; dies war jedoch nicht der Fall. Es
ist sehr schwierig, eine Situation zu entschuldigen, in der die nationalen Behörden
absichtlich die Rechtsvorschriften zugunsten des Staates und zum Nachteil der
Bürger geändert haben, um anschließend ihre eigene bewusste gesetzgeberische
Tätigkeit als „außergewöhnlichen Umstand“ darzustellen.
Anfang der 90er Jahre fanden in zahlreichen post-kommunistischen Ländern
verschiedene Umwandlungen ihres politischen und wirtschaftlichen Systems statt,
jedoch hat (meines Wissens jedenfalls) keines davon all diese recht langwierigen
Umwandlungen benutzt, um die Enteignung seiner Bürger zu rechtfertigen. Sie
haben im Gegenteil ehemaliges Staatseigentum entstaatlicht und privatisiert. Viele
Menschen, die unter den damaligen totalitären kommunistischen Regimes nicht
einmal davon träumen konnten, Privateigentum zu erlangen, sind Eigentümer
geworden. Im Lichte dieser Erfahrung erscheinen die Versuche, die Enteignung von
Tausenden von deutschen Bürgern durch den notwendigen Übergang von einem
„kommunistischen Eigentumssystem in ein marktwirtschaftliches System“ zu
erklären, wirklich befremdlich (Schriftsatz der Regierung, Nr. 32).
In der zu prüfenden Rechtssache haben die Menschen ihr Eigentum nicht wegen
der deutschen Wiedervereinigung verloren, sondern infolge der Änderung der
Gesetzgebung, die von nationalen Behörden zum Nachteil von Grundeigentümern
vorgenommen worden ist. Meines Erachtens können und dürfen derartige
„außergewöhnlichen Umstände“ die deutschen Behörden nicht von ihrer
Verpflichtung entbinden, einen gerechten Ausgleich zwischen den in Rede
stehenden konkurrierenden Interessen herbeizuführen: das Interesse des Staates,
die Grundstücke zu erlangen, und das legitime Interesse der gutgläubigen
Eigentümer, eine Entschädigung zu erhalten.
Ich bin der Meinung, dass der belangte Staat im vorliegenden Fall den Grundsatz
des „gerechten Ausgleichs“ nicht beachtet hat. Dies tritt noch klarer zutage, wenn
man das von den Beschwerdeführern in der mündlichen Verhandlung vorgetragene
Argument berücksichtigt, dass sie nicht einmal das Recht hatten, ihre eigenen
Grundstücke zu kaufen.
Bei dem in dieser Sache erfolgten Eigentumsentzug handelt es sich eindeutig um
eine Einziehungsmaßnahme. Die Einziehung ist aber eine Form der Bestrafung, die
per definitionem
das Vorhandensein eines Verschuldens voraussetzt. Es versteht
sich von selbst, dass die belangte Regierung irgendein Verschulden der
Beschwerdeführer weder aufgezeigt noch behauptet hat.
Infolgedessen halte ich den Eingriff in das Eigentumsrecht der Beschwerdeführer
im vorliegenden Fall für nicht verhältnismäßig.
Alle zuvor dargelegten Erwägungen veranlassen mich zu der Schlussfolgerung,
dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention verletzt worden ist.
GEMEINSAME ABWEICHENDE MEINUNG DER RICHTER COSTA UND
BORREGO BORREGO, DER SICH RICHTER RESS UND RICHTERIN
BOTOUCHAROVA ANSCHLIESSEN
1
1. In dieser Rechtssache hatte eine Kammer der Dritten Sektion einstimmig
entschieden, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verletzt worden ist. Wir sind
hingegen zu unserem großen Bedauern nicht in der Lage, uns der Meinung der
Mehrheit der Großen Kammer anzuschließen. Die im Anschluss an die Verweisung
unter den Bedingungen des Artikels 43 der Konvention befasste Große Kammer
hat mehrheitlich die Meinung vertreten, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht
dadurch verletzt worden sei, dass die Beschwerdeführer verpflichtet worden
waren, ihre Grundstücke, die sie 1976 (zwei von ihnen), 1978 (zwei andere von
ihnen), 1986 (die letzte) geerbt hatten, entschädigungslos an den Fiskus
aufzulassen. Gerade dieses völlige Fehlen einer Entschädigung bereitet uns
Probleme.
2. Wir sind natürlich mit Nr. 112 des Urteils einverstanden, wenn die Prüfung „im
Lichte des einmaligen Kontextes der deutschen Wiedervereinigung“ erfolgt (den
das Kammerurteil bereits herausgestellt hatte). Dieser Begriff sollte unseres
Erachtens nicht missbraucht werden, da es in der bewegten Geschichte Europas
vom Ende des Zweiten Weltkriegs über den Zusammenbruch der kommunistischen
Regimes in den Ostländern bis zu den Konflikten auf dem Balkan viele „einmalige
Kontexte“ gab. Dies beanstanden wir aber nicht in dem Urteil.
3. In Nr. 116 prangert es das Modrow-Gesetz als ein „von einer nicht demokratisch
gewählten Volksvertretung“ beschlossenes Gesetz an. Es trifft zu, dass die
Volksvertretung, die es am 6. März 1990 verabschiedet hat, nicht aus
demokratischen Wahlen hervorgegangen war. Es ist jedoch zu berücksichtigen,
dass dieses Gesetz „im Rahmen der Verhandlungen“ zwischen den beiden
deutschen Staaten (und den vier ehemaligen Besatzungsmächten) verabschiedet
worden ist und dass sein Ziel darin bestand, den „Übergang von einer
sozialistischen Wirtschaft zur Marktwirtschaft“ sicherzustellen. Dies geht aus den
Nrn. 19 und 20 des Urteils hervor. Es kann noch hinzugefügt werden, dass die für
die Gesetzgebung zuständigen Arbeitseinheiten der Bundesministerien bei seiner
Ausarbeitung hinzugezogen worden waren. Das Modrow-Gesetz ist tatsächlich das
Ergebnis politischer Verhandlungen. Die „nicht demokratische Volksvertretung“ der
ehemaligen DDR ist daher nicht die einzige Urheberin des Modrow-Gesetzes.
Zudem wurde es Bestandteil des Rechts des wiedervereinigten Deutschlands, und
zwar am Tag selbst der Wiedervereinigung, nämlich am 3. Oktober 1990 (siehe
Nrn. 19 und 22 des Urteils).
4. Das Gesetz vom 14. Juli 1992 ändert folglich ein Gesetz, das nahezu zwei Jahre
lang Bestandteil des Rechts der Bundesrepublik Deutschland war.
Zugegebenermaßen stellte ein solcher Zeitraum, wie dies in Nr. 116 ii ausgeführt
wird, angesichts des Umfangs der Aufgabe eine „angemessene Frist“ dar, um die
„Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren“, selbst wenn ein Zeitraum
von nahezu zwei Jahren nicht kurz ist.
5. Wenn es in diesem Absatz in Ziffer iii hingegen weiterhin heißt, dass den
Eigentümern eine „unverhoffter Glücksfall“ zugute gekommen sei und die
Tatsache, dass „diese Korrektur entschädigungslos erfolgte, nicht
unverhältnismäßig“ gewesen sei, sind wir nicht mehr einverstanden. Das Wort
„Glücksfall“ ist offensichtlich zum ersten Mal in dem Urteil
James u.a. ./.
Vereinigtes Königreich
vom 21. Februar 1986 (Serie A-98) verwendet worden. In
dem Urteil James ist jedoch gleichzeitig der Grundsatz einer Entschädigung – wenn
auch durch eine „Erstattung unter dem Verkehrswert“ – für die Personen
festgeschrieben worden, denen ihr Eigentum entzogen worden war (
James
, Nr.
54). Ein völliges Fehlen einer Entschädigung ist nur unter außergewöhnlichen
Umständen gerechtfertigt (Urteil
Ehemaliger König von Griechenland u. a.
vom 23.
November 2000 [Gr.Kammer], Samml. 2000-XII, Nr. 49); es ist bezeichnend, dass
der ehemalige König, der infolge eines Referendums nach dem Fall einer
Militärdiktatur eine von unserem Gerichtshof zugesprochene beträchtliche
Entschädigung erhalten hat, während die bescheidenen Beschwerdeführer hier
keinerlei Anspruch haben. Gibt es etwa zwei Arten von außergewöhnlichen
Umständen? Außerdem ist der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ per se
gefährlich; er ist unseres Erachtens mit großer Vorsicht zu handhaben.
6. Wir müssen hinzufügen, dass das Gesetz von 1992 rückwirkende Kraft hatte
und wenig vorhersehbar war. Die Beschwerdeführer waren rechtmäßige
Eigentümer geworden. Sie waren als solche ordnungsgemäß im Grundbuch
eingetragen: die fünfte Beschwerdeführerin seit 1991, die vier anderen seit dem
Gesetz von 1992 oder einem späteren Zeitpunkt. Die Tatsache, dass sie Eigentum
geerbt hatten, das ursprünglich zur landwirtschaftlichen Nutzung bestimmt war,
während sie nicht der nicht mehr Landwirte oder Mitglieder einer
Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft waren, könnte es rechtfertigen,
dass man ihnen ihr Eigentum entzogen hat (obgleich sie gutgläubig waren und
Vertrauen in das Gesetz gehabt hatten). Aber ohne jegliche Entschädigung?
Die Rechtsprechung lässt selbstverständlich in bestimmten Fällen ein gesetzliches
Vorkaufsrecht des Staates zu (siehe zum Vorkaufsrecht eines Kunstwerks das
Urteil in der Sache
Beyeler ./. Italien
[Gr. Kammer] vom 9. Januar 2000, Samml.
2000-IV. oder zum Vorkaufsrecht von Immobilien
Hentrich ./. Frankreich,
Urteil
vom 22. September 1994, Serie A-296); sie hat jedoch unseres Wissens nie ein
rückwirkendes
Vorkaufsrecht zugelassen. Im Fall von Herrn Beyeler und Frau
Hentrich ist im Übrigen anerkannt worden, dass eine Verletzung des Artikels 1 des
Protokolls Nr. 1 vorliegt; sie haben nach Artikel 41 beachtliche (d.h. im Fall von
Herrn Beyeler sehr beachtliche) Beträge erhalten. Gibt es etwa zwei Arten von
Vorkaufsrecht?
7. Kurz und gut, wir sind der Meinung, dass die Beschwerdeführer
entschädigungslos enteignet worden sind; sie wurden Opfer einer Verletzung
rechtsstaatlicher Grundsätze, während gerade die Wiedervereinigung Deutschlands
in ihrem einmaligen Kontext den Rechtsstaat wieder herstellen wollte. Dies erklärt
unsere Entscheidung zu Artikel 1 des Protokolls Nr. 1.
8. Wir haben auch für eine Verletzung des Artikels 41 der Konvention in
Verbindung mit diesem Artikel gestimmt: In unseren Augen kann das völlige
Fehlen einer Entschädigung nicht durch eine tatsächlich anders gelagerte Situation
zwischen den Beschwerdeführern und den drei in Nr. 119 des Urteils genannten
Personengruppen gerechtfertigt sein. Daher ist die Argumentation der Kammer in
Nr. 97 ihres Urteils auch nicht abwegig gewesen; sie besagte, dass sie es
angesichts ihrer Feststellung einer Verletzung des Rechts der Beschwerdeführer
auf Achtung ihres Eigentums nicht für erforderlich erachtet habe, die Behauptung
einer Verletzung des Artikels 41 zu untersuchen. Wir ziehen aber die Haltung vor,
die wir durch unsere Entscheidung zum Ausdruck gebracht haben: Wir denken,
dass sie unsere Überzeugung besser ausdrückt.
ABWEICHENDE MEINUNG DES RICHTERS RESS
1. Ich teile die abweichende Meinung der Richter Costa und Borrego Borrego, der
sich die Richterin Botoucharova angeschlossen hat, außer in Bezug auf die
Verletzung des Artikels 14. Die Argumentation der Kammer, die am 22. Januar
2004 einstimmig in dieser Sache ein Urteil angenommen hatte, in dem sie eine
Verletzung des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 feststellte, weil der Staat die
Beschwerdeführer gezwungen hatte, ihr Eigentum entschädigungslos an den Staat
aufzulassen, scheint mir immer noch überzeugender zu sein als das Urteil der
Großen Kammer.
2. Die Beschwerdeführer hatten nicht auf unrechtmäßige, sondern mit dem Gesetz
vom 6. März 1990 auf absolut legale Weise Eigentumsrechte erworben. Man
könnte von einem unrechtmäßigen Erwerb oder wie die Große Kammer von einem
unverhofften Glücksfall sprechen, wenn man die alten Gesetze und Verordnungen
der DDR als entscheidendes Kriterium heranziehen würde. Dies war aber gerade
nicht die Absicht des Gesetzgebers oder der Sinn des Gesetzes vom 6. März 1990.
Der Gesetzgeber war gehalten, wahres Eigentum im Sinne einer freien
Marktwirtschaft zu schaffen, um die DDR auf den Abschluss eines Vertrags zur
Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bundesrepublik
Deutschland vorzubereiten, was schließlich am 18. Mai 1990 erfolgte.
Es ist sehr weit hergeholt anzunehmen, dass dieses Gesetz in Bezug auf die Frage des
Eigentums der Erben dieser Grundstücke eine Lücke aufweist und daraus eine
Reihe von Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Rechtsposition abzuleiten.
Obgleich das Gesetz vom 6. März 1990 sehr kurz und knapp ist, sind alle strittigen Fragen im
Bundestagsausschuss erörtert worden und waren daher dem Gesetzgeber bekannt.
Die Struktur dieses Gesetzes weist keine Anhaltspunkte auf, die auf eine solche
Lücke schließen ließen.
Ansonsten könnte man aus kurzen Gesetzen alle möglichen
Lücken ableiten, sobald die Ergebnisse des Gesetzes nicht zufriedenstellend
erscheinen. In diesem Fall kann der Gesetzgeber selbstverständlich diese
Ergebnisse korrigieren, jedoch nur unter Beachtung der persönlichen Rechte, die
er geschaffen hat.
Außerdem konnten die Beschwerdeführer seit dem Gesetz vom
6. März 1990 bis zu dem Gesetz von 1992 zwei Jahre lang gutgläubig ihre
Eigentumsrechte ausüben.
Wenn man bedenkt, dass der Zeitraum, in dem die
italienischen Behörden Herrn Beyeler in Ungewissheit darüber gelassen haben, ob
er rechtmäßig Eigentümer geworden war (
Beyeler ./. Italien
[GK], Nr. 33202/96,
CEDH 2000-I, Nr. 119),
etwas mehr als vier Jahre betrug,
hatten meines Erachtens im vorliegenden Fall die Beschwerdeführer, deren Eigentumsposition
nicht in Frage gestellt wurde, ebenfalls Anspruch auf eine Ausgleichsleistung
wegen dieser vom Staat geschaffenen berechtigten Erwartung.
3. Mein größter Vorbehalt bezieht sich auf die Heranziehung des „einmaligen“
Kontextes der deutschen Einigung und der „außergewöhnlichen Umstände“ in
dieser Sache. Wie meine Kollegen Costa und Borrego Borrego klar betont haben,
darf dieser Ausdruck nicht missbräuchlich verwendet werden.
Die Einigung Deutschlands ist nicht „einmaliger" als die Auflösung der UDSSR oder von
Jugoslawien oder der Wechsel des politischen Regimes in vielen Ländern nach dem
Fall der Berliner Mauer.
Wenn ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland durch
die Konvention gebunden ist, können solche Ereignisse nicht im Großen und
Ganzen eine vage Auslegung oder eine weniger strenge Anwendung der
Konvention rechtfertigen. Das Urteil
Ilascu u.a. ./. Moldau und Russland
([GK], Nr.
48787/99, CEDH 2004-...), dessen Kontext nach der Auslösung der UDSSR auch
als « einmalig » hätte eingestuft werden können, ist ein gutes Beispiel für eine
solch harte Haltung des Gerichtshofs. Auch in dieser Rechtssache hätte der
Gerichtshof mit dem Begriff „außergewöhnliche Umstände“ zu ganz anderen
Ergebnissen kommen können.
Ich habe den Eindruck, dass sich der Gerichtshof in
seiner Entscheidung in der Sache
von Maltzan u.a. ./. Deutschland
((Entsch.) [GK],
Nr. 71916/01, 71917/01 und 10260/02, CEDH 2005, Nrn. 77 und 111-112), in der
er die berechtigte Erwartung der Beschwerdeführer auf eine Ausgleichsleistung (als
Eigentumsrecht) nicht anerkannt hat, selbst wenn das Bundesverfassungsgericht
dieses Eigentumsrecht grundsätzlich anerkannt hatte, sowie im vorliegenden Fall
weniger strikt gezeigt hat.
4. Die Einführung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ als
ratio decidendi
,
um eine Ausnahme im Rahmen des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 zu rechtfertigen,
ist ein sehr gefährlicher Schritt bei der Entwicklung der Auslegung der Konvention.
Der Gerichtshof hat davon sehr selten Gebrauch gemacht, beispielsweise in der
Sache
Ehemaliger König von Griechenland u.a. ./. Griechenland
([GK],
Nr. 25701/94, CEDH 2000-XII, Nr. 49), in der er dennoch eine gerechte
Entschädigung zugebilligt hat.
Wenn der Gerichtshof außergewöhnliche Umstände
zulässt, um Eingriffe des Staaten in die Rechte des Einzelnen zu rechtfertigen,
handelt es sich um eine auf das Staatsinteresse eingestellte Denkweise, die weit
von der Vorstellung des Schutzes der Menschenrechte entfernt ist. In der Sache
James u.a.
, die als Parallelfall genannt wurde (
James u.a. ./. Vereinigtes
Königreich
, 21. Februar 1986, Serie A, Band 98) ging es darum, die Rechte
zwischen Privatpersonen abzuwägen; in dieser Sache konnte festgestellt werden,
dass es keinen gerechten Ausgleich zwischen den betroffenen Personen gab, da
die Mieter bei den Gebäuden bereits Investitionen getätigt hatten, so dass der
Wegfall der formalen Eigentumsposition gerechtfertigt war. Dennoch hat der
Gerichtshof auch in dieser Sache eine gerechte Entschädigung nicht
ausgeschlossen, selbst wenn sie unter dem Verkehrswert lag.
In diesem konkreten Fall handelte es sich um eine Situation, in der der Staat als gerechter Schlichter zwischen den in Rede stehenden Privatinteressen angesehen werden konnte.
Im vorliegenden Fall ist der Staat selbst Urheber dieses Eingriffs, da das Modrow-
Gesetz Ungleichheiten in der Gesellschaft geschaffen hatte. Die Umstände sind bei
weitem nicht mit denen der Sache
James u.a.
vergleichbar und ich verstehe nicht,
wie der Gerichtshof diesen tiefgreifenden Unterschied außer Acht lassen konnte.
Der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ ist ein Begriff, der an sich kaum
verallgemeinert werden kann. Wenn außerdem versucht wird, den Begriff
„außergewöhnliche Umstände“ als
ratio decidendi
zu verallgemeinern, verliert der
Gerichtshof praktisch seine Eigenschaft als Justizorgan.
Es lässt sich nicht mehr vorhersehen, wann und unter welchen Umständen der Gerichtshof
„außergewöhnliche Umstände“ annimmt.
Ist die Bekämpfung des Terrorismus eine außergewöhnliche Situation? Rechtfertigt eine solch außergewöhnliche Situation Eingriffe in die Menscherechte mit dem Ergebnis, dass keine Verletzung mehr vorliegt?
Soweit ich in der Vergangenheit feststellen konnte, hat der Gerichtshof
nie einen solchen Eingriff in die Menschenrechte aufgrund „außergewöhnlicher
Umstände“
zugunsten des Staates
gerechtfertigt. Ganz im Gegenteil hat der
Gerichtshof beispielsweise in der Sache
D. ./. Vereinigtes Königreich
(Urteil vom 2.
Mai 1997,
Urteils- und Entscheidungssammlung
1997-III) eine Ausweitung des
Schutzes des Einzelnen unter „außergewöhnlichen Umständen“ gerechtfertigt, was
eher der Vorstellung vom Schutz der Menschenrechte entspricht, auch wenn die
Rechtfertigung sich kaum verallgemeinern lässt.
5. Die Tatsache, dass ein Gesetz Ungleichheiten schafft, ist keine
außergewöhnliche Situation. Es gibt viele derartige Gesetze und der Gesetzgeber
kann sich veranlasst sehen, eine solche Ungleichheit zu korrigieren; diese
Korrektur muss allerdings unter Achtung der Menschenrechte erfolgen.
Diese Korrektur entspricht nicht einer „außergewöhnlichen Situation“. Es ist an sich eine
völlig gängige Situation, in der der Gesetzgeber unter dem Druck der Politik oder
aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken einen Fehler des Gesetzgebers
korrigiert, der zu unannehmbaren Folgen in der Gesellschaft geführt hat.
Dies alles spielt sich jedoch auf politischer Eben ab und es muss verhindert werden, dass
solche Erwägungen durch den Begriff „außergewöhnliche Situation“ in den Rahmen
der Auslegung der Konvention gelangt.
6. Was ist an einer Übergangssituation außergewöhnlich? Unter Umständen hat
der Gesetzgeber mehr Möglichkeiten, Fehler zu begehen, die der künftige
Gesetzgeber dann möglicherweise korrigieren möchte. Wird hierdurch jedoch ein
Freibrief dafür ausgestellt, Menschenrechtsverletzungen zu begehen oder
Verletzungen mit Nichtverletzungen gleichzusetzen?
Der Gerichtshof hat ebenfalls die Art des Rechts oder besser gesagt die mangelnde Eindeutigkeit seiner Art und seiner Beschaffenheit erwähnt und eine Klassifizierung zwischen den schwachen
und den normalen oder starken Rechten eingeführt.
Durch diese Unterscheidung werden die Dinge noch unklarer.
Einer der großen Irrtümer des Gerichtshofs bestand darin, sich mit der Gesetzgebung der DDR, einem Staat, der wohlgemerkt nicht durch die Konvention gebunden war, zu befassen.
Ausgangspunkt hätte für den Gerichtshof die Annahme des Einigungsvertrags sein müssen, d.h. der Zeitpunkt, in dem die Konvention auch hinsichtlich des Hoheitsgebiets der
ehemaligen DDR in Kraft getreten ist.
Mit diesem Vertrag ist das Modrow-Gesetz Bestandteil des Bundesrechts geworden, und wie die Regierung bestätigt hat, ist das Eigentumsrecht der Beschwerdeführer festgeschrieben worden.
Es war nicht nur überflüssig, auf die Rechtslage in der DDR Bezug zu nehmen, sondern überdies
ungerechtfertigt, weiter in die Vergangenheit als bis zum Inkrafttreten der
Konvention hinsichtlich des Hoheitsgebiets der DDR zurückzugehen.
7. Der Gerichtshof hat auch die Tatsache als außergewöhnlichen Umstand
angesehen, dass das Modrow-Gesetz von einer nicht demokratisch legitimierten
Regierung verabschiedet worden war und dass daher niemand auf die
Rechtssicherheit eines solchen Gesetzes vertrauen durfte.
Der entscheidende Augenblick war das Inkrafttreten des Einigungsvertrags und die Einbindung des Modrow-Gesetzes in das Recht der Bundesrepublik Deutschland durch das
deutsche Parlament, das absolut demokratisch gewählt war, wodurch dieses
Argument hinfällig wird. Die Tatsache, dass der deutsche Gesetzgeber rasch,
nämlich innerhalb von weniger als zwei Jahren, reagiert hat, um die sogenannten
unannehmbaren Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren, rechtfertigt
es nicht, „außergewöhnliche Umstände“ geltend zu machen.
Im Gegenteil trägt ein Parlament, das rasch Fehler korrigiert, die offen zutage getreten sind, nicht einer „außergewöhnlichen Situation“ Rechnung und rechtfertigt nicht die
Schlussfolgerung, dass die vorgenommenen Eingriffe keine Verletzungen der
Menschenrechte darstellen können.
In kurzen Worten:
Diese Argumentation dreht sich im Kreis. Die in Rede stehende Situation hat nichts mit der derjenigen gemeinsam, die in dem Urteil
Rekvényi ./. Ungarn
([GK], Nr. 25390/94, CEDH
1999-III) beschrieben wird; darin wurde die Einschränkung des Stimmrechts
dadurch gerechtfertigt wurde, dass der gesamte Wahlvorgang ansonsten gefährdet
gewesen wäre.
Im vorliegenden Fall hat die Regierung nicht vorgetragen, dass sie
individuelle Eigentumsrechte schützen sollte, sondern der Staat hat im Gegenteil
an eine Lösung gedacht, die es ihm ermöglichen würde, den größtmöglichen
Nutzen aus der Eigentumsentziehung zu ziehen.
8. Die Kammer hatte nicht über die Höhe der gerechten Entschädigung
entschieden, aber sie hatte den Grundsatz bestätigt, der besagt, dass ein
unverhältnismäßiger Eingriff in das Eigentumsrecht üblicherweise zu einem
Anspruch auf eine Wiedergutmachung führt. Alle Erwägungen zur Beschaffenheit
der Rechte der Beschwerdeführer und ihrer berechtigten Erwartung könnten, wie
die Kammer betont hatte, bei der Anwendung des Artikels 41, jedoch nicht bei der
Auslegung und Anwendung des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 eine Rolle spielen.
Wenn der Gerichtshof jetzt feststellen muss, dass eine gewisse Form der
Enteignung verhältnismäßig ist, weil der Staat ein Interesse daran hat, Fehler zu
korrigieren, so ist dies nicht weit von der in dem Urteil
Streletz, Kessler und Krenz
./. Deutschland
zurückgewiesenen Argumentation [GK], Nr. 34044/96, 35532/97
und 44801/98, CEDH 2001-II) entfernt;
dort war die Staatsräson (in diesem Fall der DDR) von den Beschwerdeführern geltend gemacht worden,
um die Eingriffe zu rechtfertigen. Wenn der Gerichtshof einräumt, dass der Staat Gründe dafür
gehabt haben kann, die Menschenrechte zu verletzen, wenn er sie als außergewöhnlich
oder anders einstuft, wer wird dann die Menschen vor Eingriffen in diese Rechte
schützen?
Note
1
Herr Ress und Frau Botoucharova pflichten nicht den
Schlussfolgerungen der Meinung zu Artikel 14 der Konvention
in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 bei, da sie in
diesem Punkt wie die Mehrheit entschieden haben